Chaos bei der S-Bahn:"Ich dachte immer, die Deutschen sind so organisiert!"

Lesezeit: 3 Min.

  • Eine Pannenserie legte am Morgen den gesamten Münchner S-Bahn-Verkehr auf der Stammstrecke lahm.
  • Stundenlang müssen Pendler auf Bahnsteigen und in Zügen ausharren. Einige begeben sich in Lebensgefahr, als sie einfach die Notentriegelung der S-Bahn öffnen.
  • Auch am Abend kommt es Richtung Ostbahnhof wieder zu Problemen.

Von Andreas Schubert und Jutta Czeguhn, München

"Mit Humor ist vieles erträglicher", sagt Luise Allendorf-Höfer. Die Elektrotechnik-Ingenieurin war am Montag mit der S 3 von Olching zum Isartor unterwegs, als um 7.44 Uhr die Oberleitung riss. Und in den nächsten zweieinhalb Stunden wurde der Humor von Allendorf-Höfer und 150 weiteren Fahrgästen bis zur Belastungsgrenze auf die Probe gestellt. Denn so lange waren sie auf der Strecke zwischen Langwied und Pasing im Zug eingesperrt, bis ihn die Feuerwehr evakuierte und die Fahrgäste mit einem Großraumrettungswagen in ein Betriebsgebäude auf dem Bahngelände brachte. Die Bahn selbst stellte einige Taxis als Schienenersatzverkehr zur Verfügung.

Fast zur gleichen Zeit blieb zwischen Pasing und Laim eine S 6 liegen, hier mussten 100 Passagiere mehr als eineinhalb Stunden verharren, ehe sie die Feuerwehr gegen 11.30 Uhr aus dem Zug befreit hatte und zu Fuß zum 300 Meter entfernten Pasinger Bahnhof geleitete.

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Die Evakuierungen dauerten deshalb so lange, "weil wir die Passagiere nicht einfach so auf der Strecke aussteigen lassen können", wie ein Bahnsprecher sagte. Zuerst mussten die Züge gesichert und im Fall der S 3 die kaputte Oberleitung geerdet werden. Dann habe man zunächst eine alternative Beförderung organisiert, "damit die Leute nicht einfach so in der Kälte herumstehen".

Wie Allendorf-Höfer später erzählt, war die S 3 nur spärlich gefüllt. Weil von der Hochspannung des gerissenen Fahrdrahts eine potenzielle Lebensgefahr ausging, mussten sie sich von Fenstern und Türen fernhalten. Die Zugführerin habe selbst nicht gewusst, wann es wieder weitergeht, sodass einzelne Passagiere irgendwann die Geduld verloren.

Die meisten hätten die Situation aber gelassen hingenommen, berichtete Allendorf-Höfer, die einen ähnlich langen Ausfall als Fahrgast noch nicht erlebt hat. Auch Annette Braxmaier, die im selben Zug von Gröbenzell zur Hackerbrücke wollte, kann sich an so einen Vorfall nicht erinnern. "Eine Stunde Verspätung ist ja normal", sagt die Juristin, "aber so extrem war es bisher noch nie."

Beide Passagierinnen berichten, dass es im Zug ziemlich kalt wurde, weil ohne Strom auch keine Heizung lief. Beide sind auf die S-Bahn auf dem täglichen Weg zur Arbeit angewiesen, da das Auto wegen mangelnder Parkplätze in der City und zu langer Fahrzeiten keine Alternative ist. "Man nimmt da so etwas mit Galgenhumor", sagt Braxmaier. Sie fuhr dann erst gar nicht mehr ins Büro, sondern nahm spontan einen Tag Urlaub.

Manche Passagiere haben sich in Lebensgefahr gebracht

Dass ausgerechnet zum Kälteeinbruch die S-Bahnen streikten, bedauere man sehr, sagte ein Bahnsprecher: "Zum Unglück kam noch Pech hinzu." Denn am Montag kam es gleich zu einer ganzen Pannenserie, die laut Bahn aber nichts mit der Kälte zu tun hatte. Die frostigen Temperaturen verursachten bayernweit nur vereinzelte Weichenstörungen.

Nach dem Oberleitungsschaden kam es am Bahnhof Pasing zu Störungen im Stromnetz, was den gesamten Zugverkehr, auch die Fernverbindungen, lahmlegte. Der Oberleitungsschaden war an der Störung am Bahnhof aber nicht schuld, hieß es bei der Bahn. Noch am späten Nachmittag suchten die Techniker nach der Ursache. Und nachdem die S 6 kurz vor Pasing aus ebenso bisher noch ungeklärten Gründen liegen blieb, öffneten auch noch einige Passagiere die Türen per Notentriegelung und machten sich, kurz bevor die Feuerwehr eintraf, auf der Schiene zu Fuß Richtung Bahnhof auf.

Weil zu dem Zeitpunkt noch Dieselloks des Güterverkehrs auf benachbarten Gleisen unterwegs waren und ein weiterer Oberleitungsschaden nicht ausgeschlossen war, hätten sich die Passagiere in Lebensgefahr gebracht, sagt der Bahnsprecher. Bis zum Mittag war die Stammstrecke zwischen Laim und Rosenheimer Platz lahmgelegt. Selbst als die Strecke wieder freigegeben war, kam es noch Stunden später zu Verspätungen und Zugausfällen. Im abendlichen Berufsverkehr passierte die nächste größere Panne. Kurz vor 18 Uhr blieb am Rosenheimer Platz ein Zug liegen, der S-Bahn-Verkehr Richtung Osten brach zusammen. Am Ostbahnhof sperrte die Bahn infolge dessen zwei Gleise aus Sicherheitsgründen. Der Andrang auf die Bahnsteige, von denen aus gar kein Zug fahren konnte, drohte sonst zu groß zu werden, hieß es bei der Bahn. Gegen 19 Uhr begann die Bahn, den normalen Betrieb wieder aufzunehmen.

Den ganzen Tag über mussten Fahrgäste frierend an den Bahnsteigen warten. Und wieder einmal beklagten sie sich über die mangelhafte Information. Etwa in Pasing war von Service-Personal weit und breit keine Spur. Gerade Ortsunkundige konnten mit den dürren Hinweisen nur wenig anfangen. Vor dem DB-Schalter neben dem Eingang bildeten sich Schlangen. Bei der Tram vor dem Bahnhof herrschte anfangs Chaos, weil sie von Pendlern regelrecht überrannt wurde.

"Was machen wir jetzt?", fragte sich am Mittag etwa eine Gruppe Touristen aus Pisa, der die Panik ins Gesicht geschrieben stand - ihr Flieger ging kurz nach 14 Uhr. Angestrengt versuchten sie etwas von den Durchsagen zu verstehen, bis jemand übersetzte. Und nicht nur sie dürften sie diese Fragen gestellt haben: Was sind nun die Optionen? Ein Taxi zum Hauptbahnhof? Dann weiter mit dem Shuttlebus? Die Tram? Als eine S 8 in 17 Minuten angekündigt wurde, entschieden sich die Italiener zu warten. Einer aus der Gruppe, der gerade Kaffee geholt hatte, meinte, während er sich die Hände am Pappbecher wärmte: "Und ich dachte immer, die Deutschen sind so organisiert!"

© SZ vom 27.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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