Digitale Ausstellung zur Geschichte:"Trotz Arbeit bleiben Menschen arm"

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Gegen den Hunger: die Lebensmittelausgabe der Caritas an der Heßstraße 1946. (Foto: Historisches Archiv des Diözesan-Caritasverbands München-Freising)

Auch 100 Jahre nach der Gründung des Diözesan-Caritasverbandes beschäftigen sich die 10 000 Mitarbeiter in 350 Einrichtungen und Diensten noch mit der Deckung von Grundbedürfnissen - erst zu Beginn der Corona-Krise wurden wieder zwei Kirchenküchen eröffnet.

Von Sven Loerzer

In der Zeit, in der sich der Diözesan-Caritasverband der Erzdiözese München und Freising e. V. aus dem schon älteren Ortscaritasverband formierte, war die Not groß. Damals, in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, versorgte die Caritas Hungernde. "Aus Stahlhelmen wurden Küchensiebe, aus Granathülsen Töpfe", sagt Caritasdirektor Hermann Sollfrank. "Die Menschen in München kamen mit einem Blechnapf zu einer der sechs Feldküchen der Caritas. Die warmen Suppen wurden mit Pferdewagen aus der Küche am Oberwiesenfeld angeliefert."

Aber auch noch 100 Jahre nach der Gründung des Diözesan-Caritasverbandes am 10. Februar 1922 gehört die Versorgung mit Mahlzeiten für Bedürftige zu den Aufgaben der Caritas, wie Vorstandsmitglied Gabriele Stark-Angermeier betont. So habe die Caritas zu Beginn der Corona-Krise die Korbiniansküche und die Antoniusküche in München ins Leben gerufen. Spätestens seit den Hartz-IV-Reformen und der Einführung "einer völlig unzureichenden Grundsicherung" nähmen offene und versteckte Armut wieder zu. Überwunden geglaubte Missstände seien wieder da, kritisiert Stark-Angermeier: "Trotz Arbeit bleiben Menschen arm. Sie können Lebenshaltungskosten wie Miete, Strom und Heizung kaum bezahlen und sind von staatlichen Unterstützungsleistungen abhängig."

Damals wie heute sind die Beschäftigten meistens Frauen - hier im Caritas-Sekretariat um 1920. (Foto: Historisches Archiv des Diözesan-Caritasverbands München-Freising)

Not zu sehen und zu handeln, das sei das Credo der Caritas, erklärt Sollfrank. Als größter sozialer Arbeitgeber in München und Oberbayern beschäftigt der Diözesanverband knapp 10 000 Mitarbeitende, der Frauenanteil liegt bei 84 Prozent. Die mehr als 350 Einrichtungen und Dienste kümmern sich um Kinder, Jugendliche, Familien, kranke und alte Leute sowie um Menschen mit Behinderungen. Mit Blick auf die demographische Entwicklung fordert Sollfrank eine offenere Migrationspolitik. "Viele ausländische Fachkräfte interessieren sich für uns als Arbeitgeber, werden aber in ihrem Elan oft von der Bürokratie etwa bei der Anerkennung von Bildungsabschlüssen ausgebremst." Auch für Asylbewerber müsse der Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt erleichtert werden.

Im Hinblick auf das jüngste Missbrauchsgutachten fordert Sollfrank eine ehrliche, konsequente Aufarbeitung, bei der die Betroffenen von sexuellem Missbrauch in den Mittelpunkt gestellt werden. Die Kirche müsse die Strukturen, die Missbrauch begünstigen, reformieren. Dazu zählt Sollfrank den Umgang mit Macht, die fehlenden Kontrollmechanismen, die Verteilung von Kompetenzen und Befugnissen und die Haltung zu Sexualität. Im Hinblick auf die Outing-Bewegung bekannte sich Sollfrank zu Vielfalt und Toleranz: "Wir haben Mitarbeitende mit anderen kulturellen und religiösen Hintergründen, aus anderen Herkunftsländern, nicht-heterosexuelle Mitarbeitende. Sie alle leben diese Buntheit. Und das ist auch gut so."

Mit den Kirchenaustritten gehen der Caritas auch Finanzmittel verloren

Große Sorgen bereite der Caritas die steigende Zahl von Kirchenaustritten, sagt Finanzvorstand Thomas Schwarz, wegen der sinkenden Einnahmen. Mit den kirchlichen Zuschüssen, die mit 32 Millionen Euro etwa sechs Prozent des Umsatzes im Jahr 2020 abdeckten, "finanzieren wir Angebote, für die wir sonst keine Finanzierung haben", wie etwa die Verpflegung Bedürftiger. Oder zum Beispiel Unterstützungshilfen, die die ambulanten Pflegekassen nicht bezahlen, für alte Menschen in ihrem Haushalt, etwa "den Mülleimer runterbringen", sagt Stark-Angermeier. Aber auch die gemeindeorientierte soziale Arbeit, die Beratung und kleine finanzielle Hilfen für Menschen in Notlagen biete, werde so finanziert. Teile der Asylsozialberatung sowie die Begleitung von Migranten zur Integration sind ebenfalls auf die kirchlichen Gelder angewiesen. "Wir können Not nicht priorisieren, es gibt keine Triage der Not", bekräftigte Stark-Angermeier. "Wir müssen sie lindern."

Auf der Jubiläums-Website www.100-jahre-nah-am-naechsten.de fächert eine von Historikern entwickelte digitale Ausstellung ein Jahrhundert wechselvoller Caritas-Geschichte von den Anfängen über die NS-Zeit bis hin zum modernen Wohlfahrtsverband auf. Dazu gibt es auch multimediale Reportagen und Hinweise auf Veranstaltungen wie den zentralen Festakt im Herbst in Rosenheim.

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