Süddeutsche Zeitung

Bürokratie und Schwerstbehinderte:Antrag abgelehnt

Menschen mit Schwerbehinderung, die Grundsicherung bekommen, können weder sparen noch fürs Alter vorsorgen. Der Behindertenbeauftragte Oswald Utz hat deshalb die Stadt verklagt. Das Paradoxe daran: Die findet das sogar gut.

Von Thomas Hahn

Zwischendurch hat Waltraud Vogt sich mal richtig gefreut. Im Frühjahr war das, nachdem sie ihren Mut zusammengenommen und öffentlich gemacht hatte, dass die Stadt ihrer Tochter Michaela Hengmith die Grundsicherung um 71 Euro im Monat kürzen wollte.

Michaela Hengmith, 38, hat ein schweres Down-Syndrom, ihre Mutter pflegt sie, seit Michaela ein Kleinkind ist. Anfang des Jahres kam die Nachricht von der Kürzung, und Waltraud Vogt ging in ihrer Verzweiflung zur tz.

Sie brauchte das Geld, zumal sie in ihrer Wohnung eine Terrassenerhöhung bauen wollte für den Rollstuhl der Tochter. Der Artikel erschien, eine Leserin reagierte mit einer 500-Euro-Spende, und der SV Sentilo kündigte ein Benefizspiel an. "Es war ein Lichtblick", sagt Waltraud Vogt.

Dann schickte die Stadt einen Brief. Waltraud Vogt liest vor: "Sehr geehrte Frau Vogt, nach den uns vorliegenden Informationen ist es möglich, dass Ihre Leistungen nach dem SGB XII für den Zeitraum vom 1.2.2013 bis 28.2.2013 teilweise zu Unrecht gewährt wurden. Sie haben zusätzlich zu den Grundsicherungsleistungen für Monat Februar 500 Euro geschenkt bekommen. Gemäß Paragraf 82 SGB XII ist alles in Geld oder Geldeswert als Einkommen zu betrachten. Des Weiteren wird im Rahmen eines Fußballturniers ein Erlös für Ihre Tochter erspielt. Nachdem es sich laut Zeitungsbericht um ein Benefizturnier handeln soll, benötigen wir Nachweise über die Zweckgebundenheit über die zu erwartenden Einnahmen. Wir beabsichtigen daher, die Ihnen rechtswidrig gewährten Leistungen zurückzufordern (. . .)." Da war Waltraud Vogts Freude erst mal weg.

Der Ärger ist geblieben

Die Sozialstadt und ihre Bürger - das ist ein großes Thema, das vor allem jene Münchner sehr beschäftigt, die ohnehin schon genug Probleme haben: jene mit schwerer Behinderung und ihre Angehörige. Längst ist klar, dass Michaela Hengmith die Spende doch behalten darf. Es gab einen weiteren Zeitungsartikel, diesmal reagierte die Stadt mit einer Entschuldigung.

Trotzdem. Der Ärger ist dringeblieben im Herzen der pflegenden Mutter Waltraud Vogt. Sie hat das unangenehme Gefühl, um jede Hilfe kämpfen zu müssen gegen irgendwelche Leute, die weit weg von ihren Alltagsproblemen in den Behörden sitzen.

Ihr Fall war so ähnlich wie der des Schwerstbehinderten Ferdinand Schießl, der sich kürzlich aus Notwehr an die SZ wandte. Zweckgebundene Rücklagen, die er im Rahmen seines Budgetvertrages mit der Krankenkasse gebildet hatte, wertete die Stadt als Vermögen und wollte keine Grundsicherung mehr zahlen. Der Artikel erschien, die Stadt zahlt wieder. Nur: Was geschieht mit denen, die nicht den Mut haben, sich an Zeitungen zu wenden, wenn die Stadt ihren Antrag auf Leben aus formaljuristischen Gründen blockiert?

"Ich werde nur gequält von denen"

Zu Oswald Utz, dem ehrenamtlichen Behindertenbeauftragten der Stadt, kam zuletzt die Mutter eines behinderten Kindes. Sie hatte es aufgegeben, finanzielle Hilfe zu beantragen, weil sie so frustriert war von ihren Behördengängen und den Forderungen nach immer neuen Dokumenten. Sie sagt: "Ich werde nur gequält von denen", berichtet Utz.

Er kennt viele Fälle von Menschen mit Behinderung, die über die Fallstricke eines eng geknüpften Regelwerks stolpern und sich dabei nicht nur erst recht behindert fühlen, sondern auch in ihrer Menschenwürde verletzt. Außerdem ist Utz selbst betroffen. Er hat Glasknochen und sitzt im Elektrorollstuhl.

Oswald Utz ist ein kritischer Geist, aber keiner, der vor lauter Ärger gleich alles schlecht findet. Er sieht sich als Vermittler zwischen den Empörten und der Stadt. München, sagt er, sei im Grunde ein guter Standort für Menschen mit schwerer Behinderung. Wegen der Infrastruktur, wegen Bildungseinrichtungen wie der Pfennigparade oder dem Integrationszentrum für Cerebralparesen.

Außerdem fördert die Stadt das sogenannte Arbeitgebermodell zum selbstbestimmten Leben, bei dem die Schwerstbehinderten in eigenen Wohnungen leben und als Arbeitgeber ihre Pfleger beschäftigen. "Andere Kommunen machen es wesentlich schwerer, das anzusteuern", sagt Utz. Trotzdem gibt es Kritik. "Sobald Verwaltung auf Realität trifft und das nicht kompatibel ist, wird es schwierig für die Betroffenen", sagt Utz.

Schwerstbehinderte, die selbstbestimmt leben, müssen ständig nachweisen, dass sie das Geld von der Stadt brauchen. Sobald sie mehr als eine bestimmte Summe besitzen, fordert die Stadt Geld zurück oder verwehrt nötige Hilfszahlungen. Daraus ergeben sich leicht Missverständnisse und voreilige Negativbescheide, die Schwerstbehinderte als existenzbedrohend empfinden, weil sich ihre Behinderung ja nicht ändert, bloß weil die Stadt auf den ersten Blick eine Gesetzeswidrigkeit erkennt, die in Wirklichkeit vielleicht gar keine ist.

"Ich bin ein offenes Buch"

Sparen? Altersvorsorge betreiben? Unmöglich, und zwar nicht nur für die Behinderten selbst. Auch für deren Lebenspartner. Oswald Utz, angestellt in der Verwaltung der Volkshochschule, lebt mit Freundin und Kind in einer Wohnung. "3000 Euro und ein bisserl was" dürften sie als Bedarfsgemeinschaft besitzen, sagt er, mehr nicht. Auch was seine Freundin zu viel verdient, muss Utz anteilsmäßig für die Bezahlung seiner Pflege verwenden. Regelmäßig muss er die Stadt über die Finanzverhältnisse informieren: "Wenn sie sagen, sie wollen unsere Kontoauszüge sehen, dürfen sie das, und zwar drei Monate rückwirkend, lückenlos." Auch Waltraud Vogt sagt: "Ich bin ein offenes Buch."

Die Stadt sagt, sie könne nicht anders, wegen der Sozialgesetzgebung. Oswald Utz sagt: "Die Sozialgesetzgebung berücksichtigt nicht, dass ein Mensch mit Behinderung seinen Lebensunterhalt verdienen kann, aber nicht aus der Situation rauskommt, dass er lebenslang alimentiert werden muss. Sie berücksichtigt nicht mehr die Lebensrealität der Menschen."

Er hat die Stadt deshalb verklagt, mit Verweis auf die UN-Behindertenrechtskonvention. Utz macht sich auf einen langen Rechtsstreit bis hin zum Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gefasst. Und er hat nicht einmal den Eindruck, dass die Stadt sauer ist deswegen. Im Gegenteil. "Die Stadt befördert das, dass es einen richterlichen Bescheid gibt." In den ausführlichen schriftlichen Antworten zum Thema aus dem Pressebüro des Sozialreferats steht der Satz: "Für die Betroffenen wäre natürlich ein Einkommens- und vermögensunabhängiger Leistungsanspruch wünschenswert."

Aber nette Presse-Statements helfen wenig, wenn sich viele Leute im Alltag gedeckelt fühlen. Unter dem Dach des Sozialreferats bearbeiten zwölf Sozialbürgerhäuser die Belange der Menschen mit Behinderung, und die pflichtbewussten Sachbearbeiter dort erregen zu oft Verdruss mit ihren Briefen und Paragrafenritten.

"Die sehen nie die Menschen hinter den Akten", sagt Waltraud Vogt mit ihrer kraftvollen Stimme, die nach Leben und Mut klingt. "Ich bin chronisch müde, weil ich seit 39 Jahren keine Nacht durchschlafe. Und dann müssen wir uns noch mit Behörden streiten." Waltraud Vogt hat schon viel erlebt als Pflegerin ihrer Tochter. Ihr Fazit ist ernüchternd: "Mit den Schwächsten geht man am fiesesten um. Tut mir leid, dass ich das so sagen muss."

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Quelle:
SZ vom 26.06.2013/bela
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