Süddeutsche Zeitung

Buchaktion:Gigantischer Lesezirkel

15 deutsche Städte und Landkreise beteiligen sich an der Aktion "Eine Stadt liest ein Buch" - davon liegen fünf in Bayern. An diesem Montag startet Regensburg mit einem Roman von Benedict Wells

Von Rebecca Reinhard

Um Stadtgespräch zu werden, braucht es normalerweise einen ausgewachsenen Skandal. Zuweilen genügt aber auch ein Buch. Im Fall von Regensburg etwa soll es Benedict Wells' Erfolgsroman "Vom Ende der Einsamkeit" werden. Der überaus erfolgreiche Roman aus dem Jahr 2016 ist nun einen Monat lang Flaggschiff der Aktion "Regensburg liest ein Buch". Heißt konkret: Der gleichnamige Verein organisiert noch bis zum 8. April Veranstaltungen um Roman und Autor. Über 30 sind es nun zur dritten Auflage der Leseaktion, bei einigen wird auch Wells zu Gast sein.

Die Idee selbst ist nicht neu. Ende der Neunzigerjahre aus Amerika kommend, beteiligen sich mittlerweile 15 deutsche Städte und Landkreise an "Eine Stadt liest ein Buch", davon fünf allein in Bayern. Das Ziel ist zugleich namensgebend - möglichst viele Menschen einer Stadt sollen das gleiche Buch lesen, sich darüber austauschen, zusammenfinden. Wie konkret man das Buch erarbeite, ist ganz den Veranstaltern überlassen.

Die Regensburger Initiatorin Carola Kupfer hat da genaue Vorstellungen. In einem neunköpfigen Team hat sie eigene Kriterien für die Auswahl des Buches entwickelt: Ein Taschenbuch solle es sein, günstig zu kaufen, nicht zu lang - breitentauglich eben. Der Autor solle zwecks Neutralität nicht aus der Region kommen. Und dass er oder sie noch lebt, sei auch wichtig. Schließlich werde der in jedem Jahr zur Aktion eingeladen. Heuer sei die Entscheidung aber besonders leichtgefallen. "Unglaublich schön zu lesen" sei Wells Roman, findet sie - außerdem ein junges Buch, der Autor selbst ist gerade mal 36 Jahre alt und gilt als einer der großen Shootingstars in der Gegenwartsliteratur. Mit 23 Jahren war er seiner Zeit der jüngste Autor, den der renommierte Diogenes-Verlag jemals unter Vertrag nahm. Und: Er selbst bezeichnet "Vom Ende der Einsamkeit" als sein wichtigstes Buch.

Der Roman handelt von drei Geschwistern, deren Eltern bei einem Autounfall sterben. Es folgen Jahre in Internaten, Experimente mit Drogen. Im Erwachsenenalter werden sie wieder mit dem Tod konfrontiert. Es ist ein tiefmelancholisches Buch über Liebe und Einsamkeit als Verlust von Liebe - und hat offensichtlich einen Nerv, vor allem bei jungen Regensburgern, getroffen. Wie in den letzten Jahren wurde ein Schulpreis ausgelobt, bei dem sich Schüler selbst mit dem Werk auseinandersetzen sollen - in diesem Jahr mit einer Rekordbeteiligung von 25 Einsendungen.In Gedichten, Poetry und Raps hätten viele das Thema Einsamkeit in vielen seiner quälenden, manchmal bittersüßen Facetten aufgenommen. Aus diesem Grund wird Benedict Wells selbst in diesem Jahr die Gewinnerschule besuchen und aus seinem Roman lesen.

Dabei sind Lesungen nicht unbedingt der Kern der Aktion. "Wir haben festgestellt, dass die Stadtbevölkerung mitgeht, wenn wir auf verschiedenen Niveaus die Werte des Buches erarbeiten", sagt Carola Kupfer. Höhepunkte sind freilich die Veranstaltungen mit Benedict Wells selbst: Er wird die Auftaktveranstaltung an diesem Montag besuchen und für Fotos parat stehen. Die Lesung am folgenden Dienstag sodann ist lange ausverkauft, aber am Mittwoch wird er im Akademietheater zu Gast sein. Es soll ein Making-of-Gespräch zur Entstehung des Romans werden. So wird er erklären, wieso er zu all seinen Romanen einen Soundtrack zusammenstellt - den er übrigens stets auf seiner Homepage veröffentlicht. Untermalt vom Spiel der Theatereleven schlägt die Veranstaltung somit die gewollte Brücke von Literatur zu anderen Künsten. So wird es auch eine Fotoausstellung geben, Speeddating unter dem lakonischen Leitsatz "Wer einsam bleibt ist selber schuld!" und gar private Sprechstunden einer Psychologin über Trauerbewältigung und die heilende Wirkung des Lesens. Daneben werden auch junge Autoren aus ihren Büchern lesen. Vielförmige Umsetzung in Regensburg also - mit reger Beteiligung der Bürger. Denn die werden in sogenannten Lesepunkten aufgefordert, selbst zum Veranstalter zu werden: mit selbstorganisierten Aktionen zum Buch.

Mitmachen soll der geneigte Leser auch bei der Würzburger Version von "Eine Stadt liest ein Buch" vom 23. April bis 3. Mai. Interessanterweise erfüllt die Auswahl deren Buches "Frau ohne Reue" von Max Mohr praktisch alle Kriterien, die in Regensburg zum Ausschluss führen: Mit Max Mohr ist es ein längst verstorbener Autor geworden. Einer, der in der Weimarer Republik groß wurde, als Jude 1933 oder 1934 nach China floh und dort früh verstarb. Heute kennt den Würzburger und seinen Roman "Frau ohne Reue" kaum einer mehr - auch wenn dort jüngst eine Straße nach ihm benannt wurde.

Sicherlich ist die Wahl eines historischen Stoffes für eine Großveranstaltung riskanter, weil weniger dringlich. Aber: Das Konzept habe schon bei der ersten Auflage in Würzburg 2014 funktioniert, meint die Initiatorin Elisabeth Stein-Salomon. "Viele sind bereit, sich damit auseinanderzusetzen und sich über den Autor mit der eigenen Stadt und ihrer Geschichte zu identifizieren", sagt sie. Gleichwohl zeige sich der Stoff in "Frau ohne Reue" beeindruckend modern. Nämlich handelt er von einer Frau, die aus ihrem bürgerlichen Leben ausbricht und sodann mit ihrem Geliebten nach Shanghai flüchtet - im Jahr 1933 wohlbemerkt.

Die Handlung des durchaus autobiografischen Romans erlaubt dem Würzburger Publikum, sich auf verschiedene Weise dem historischen und doch hochaktuellen Stoff zu nähern: In Veranstaltungen über Mohr, den Geflüchteten, den Arzt und Autor und in Gesprächen, Ausstellungen und Workshops zur Gleichberechtigung der Frau. All das an mitunter ungewöhnlichen Orten wie einer Sternwarte - weil der Mond eine wichtige Rolle im Roman spielt - oder in einem Flugsportclub. Letzterer ob der Referenzen an die Pilotin Elly Beinhorn im Roman. Damit sind wie in den letzten Jahren auch rund einhundert Veranstaltungen zusammengekommen, zwei Drittel davon mit kostenlosem Eintritt. "Wir wollen die Aktion wirklich für alle öffnen und Lust aufs Lesen machen", sagt Stein-Salomon. Einig sind sich die beiden bayerischen Austragungsorte zumindest in diesem Punkt allemal.

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Quelle:
SZ vom 09.03.2020
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