Süddeutsche Zeitung

Bruder von NSU-Opfer erzählt:"Es war die Hölle"

Theodorus Boulgarides wurde 2005 in München von den NSU-Terroristen ermordet - erschossen in seinem Schlüsselladen. Sein Bruder litt danach unter falschen Verdächtigungen. Nun spricht er erstmals über die schwierige Zeit und seinen Neuanfang.

Bernd Kastner

Gavriil Voulgaridis war ein starker Mann. Durchtrainiert, voller Selbstbewusstsein. Er hatte es zu was gebracht in seiner neuen Heimat, war Bereichsleiter bei einer großen Reinigungsfirma, Chef Dutzender Mitarbeiter, hat gut verdient mit seinen damals 35 Jahren. "Wir waren etabliert", sagt er, "es ging uns gut." Bis vor sieben Jahren. Voulgaridis sitzt auf seinem Sofa, das Fenster ist auf, man hört das Rauschen der großen, lauten Straße. Der Mann ist noch immer kräftig, aber die innere Stärke muss erst wieder wachsen. Er muss neu anfangen in seiner Heimat München, die er verlassen hatte, weil er zum Ausgestoßenen geworden war.

Am Abend des 15. Juni 2005 hat Gavriil Voulgaridis erfahren, dass Theodorus Boulgarides, sein sechs Jahre älterer Bruder, tot ist, erschossen in seinem Schlüsselladen an der Trappentreustraße. Gavriil hing sehr an Theo, wie ihn alle genannt haben, er war wie ein Vater für ihn. Der Schrecken jenes Abends sollte für ihn und seine Familie lange kein Ende nehmen; der Verdacht, er könnte was mit dem Mord am geliebten Bruder zu tun haben, klebte an ihnen. Erst als Ende 2011 klar ist, dass die Neonazis der Zwickauer Zelle den Münchner Griechen erschossen hatten, acht weitere Migranten und eine Polizistin, ist es eine Erlösung für Voulgaridis.

"Es war eine sehr, sehr schwierige Zeit", sagt Voulgaridis über die Jahre, als ein Verdacht auf ihm lastete. "Sehr sehr schwierig", er sagt das immer wieder, und man merkt, wie er um die passenden Worte ringt. "Ich will nicht dramatisieren." Bloß keinen neuen Hass, kein böses Blut mehr, "man muss einfach vergessen". Das Vergessen aber ist sehr schwierig.

Voulgaridis war bis zu jenem Juni 2005 ein angesehener und bekannter Mann in der griechischen Gemeinde. 1973, mit drei Jahren, hat ihn sein Vater nach München geholt, dem Jungen wurde München zur Heimat, er heiratete hier, seine beiden Kinder sind hier geboren und aufgewachsen. Er wohnte im Westend, wie viele Landsleute. "Ich kann keinen Zaziki machen, aber ich weiß, wie man Obazda macht." Wie er so auf der Couch sitzt, an der Zigarette zieht und erzählt, fällt er zwischendurch vom Hochdeutschen ins Bairische, nur ein, zwei Sätze, als wollte er einen Satz von vorhin unter Beweis stellen: "Ich bin hier zu Hause."

Zu Hause abgeholt hat ihn dann die Polizei, ab zum Verhör, und seine Frau haben sie auch mitgenommen. Mehrfach wurden sie befragt zum Tod des Bruders und Schwagers, stundenlang. Scharf seien die Fragen gewesen, die ganze Atmosphäre hat er als sehr angespannt in Erinnerung. Voulgaridis sagt, er habe ja Verständnis, dass die Polizei ihre Arbeit macht, das Umfeld des Opfers untersucht und einzuhaken versucht, wo es geht.

Was Gavriil Voulgaridis' Existenz infrage stellte, waren aber die bohrenden Fragen, die Polizisten anderen Griechen gestellt haben: Kennen Sie die Familie des Ermordeten? Ist Ihnen etwas aufgefallen an dieser Familie? Immer wieder müssen die Beamten das gefragt haben, und klar, darüber wurde getuschelt in der griechischen Gemeinde - so verbreitet sich der Verdacht. Nie offen ausgesprochen, aber immer präsent: Vielleicht hat die Familie was zu tun mit dem Mord? Aus einem Fragezeichen wird dann schnell mal ein Ausrufezeichen. Der Mord an Theo Boulgarides gebar den Rufmord an seinem Bruder Gavriil Voulgaridis.

Der Verdacht fraß sich in das Leben der Familie, Bekannte, Freunde wandten sich ab. "Wer möchte denn etwas mit dem Bruder des Ermordeten zu tun haben?" fragt eben dieser Bruder heute. Gerade für die beiden Kinder, damals Teenager, war die Situation dramatisch. "Die Ausgrenzung war das Schlimmste", sagt der Vater. Die Heimat war verloren gegangen. "Es war die Hölle. Wir konnten nicht mehr."

2009, nach dreieinhalb Jahrzehnten in München und 17 Jahren in derselben Firma, kündigte Gavriil Voulgaridis seine Stelle, löste die Wohnung auf, ging in das Land seiner Geburt, in die Fremde. "Wir haben unser Leben zurückgelassen", sagt Voulgaridis. "In Griechenland sind wir Ausländer, noch mehr Ausländer, als wir es in München sind." Es folgten zweieinhalb Jahre in Thessaloniki, die nicht wenig schwierig waren als die zuvor. Die Ehe von Gavriil Voulgaridis und seiner Frau wäre beinahe zu Bruch gegangen, es waren die Kinder, an denen sie sich immer wieder aufgerichtet haben. "Es war auch Glück, dass wir es geschafft haben."

Vor einem Jahr bestätigte sich, was Voulgaridis von Anfang an vermutet hatte, dass Neonazis die Mörder waren. Plötzlich war da wieder Licht im Leben, seither müssen sich die Polizisten und Geheimdienstler Fragen gefallen lassen, und der Staat hat nun allen Grund, bei den Angehörigen der Ermordeten um Entschuldigung zu bitten.

Es war der griechisch-orthodoxe Erzpriester Apostolos Malamoussis, eine Größe in München, der Gavriil Voulgaridis zuredete, doch wieder zurückzukehren. Ein Jahr ist er jetzt wieder hier zusammen mit seiner Frau. "Gott sei Dank", sagt er. Die Tochter, 21, studiert mittlerweile in Griechenland, der Sohn, 19, leistet seinen Wehrdienst, kommt bald aber auch zurück nach München. Es sind die Stadt München, der Freistaat und auch die Bundesregierung, die seitdem die Familie unterstützen, es ist der Versuch, etwas wiedergutzumachen. Voulgaridis bekam schnell eine Wohnung und fand auch eine neue Stelle. Er fährt jetzt städtische Müllautos, sein Dienst beginnt oft um vier Uhr morgens.

Voulgaridis ist dankbar für diese Hilfe, er sagt es immer wieder. Manche Leute, die ihn einst gemieden haben, kommen wieder auf ihn zu. Er sagt, er gehe jetzt wieder erhobenen Hauptes durch München, er hat jetzt die Chance, langsam wieder an sein altes Leben anzuknüpfen, Kraft zu sammeln, innere Kraft. "Wir sind bereit, die Vergangenheit ruhen zu lassen."

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SZ vom 24.11.2012/wib
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