Süddeutsche Zeitung

Bruce Springsteen in München:Dolmetscher hungriger Herzen

Ein Konzert wie ein Gottesdienst: Bruce Springsteen befriedigt zum Auftakt seiner Deutschlandtournee in München die ewige Sehnsucht seines Publikums nach Authentizität. Warum niemand Springsteens Pathos verachtet? Er ist einfach zu gut.

Von Sebastian Gierke

Es ist genau 22:10 Uhr. Bruce Springsteen dreht sich ein letztes Mal zu seinen jubelnden Fans um, streckt seine Fender Telecaster in die Luft wie die Freiheitsstatue ihre Fackel - allerdings mit dem linken, nicht dem rechten Arm - und schon ist er hinter der Bühne verschwunden.

Verschwunden! Nach nur zwei Stunden und 45 Minuten. Hat es das schon einmal gegeben? Ein Springsteen-Konzert, das keine drei Stunden gedauert hat?

Springsteen, der sich so gerne als der ehrliche Arbeiter unter den Rockstars präsentiert, ist mit seinem Publikum einen Pakt eingegangen. "Das Konzertticket ist mein Händedruck. Mit diesem Ticket verspreche ich, dass ich auch wirklich alles gebe. Das ist mein Vertrag", hat er einmal gesagt. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Er hat alles gegeben, auch im Münchner Olympiastadion, zum Auftakt seiner Deutschlandtournee, vor mehr als 40.000 Fans. Er hat den Vertrag erfüllt, nur eben ein bisschen zügiger als sonst.

Denn es ist kalt, es regnet. Und Bruce Springsteen ist ein Kümmerer. Er kümmert sich um seine Leute, seine Fans. Sie sollen nicht länger als unbedingt nötig im Nassen stehen müssen. Der große Performer - man verzeihe die Floskel, aber sie ist hier unbedingt angebracht - heizt seinen Fans ein. 29 Lieder spielen er und die E Street Band, so viele wie bei längeren Konzerten. Springsteen drückt aber dazwischen aufs Tempo. In seinen Songs prangert er zwar Ungerechtigkeit und Armut an, nicht aber auch noch dazwischen, verzichtet diesmal auf Anklagen gegen "gierige Banker" und "korrupte Politiker" - und auf eine Pause vor den Zugaben.

Der erste Song: Springsteens Version von "Who'll Stop The Rain", ein "Creedence Clearwater Revival"-Klassiker. Dazu albert er: "Servus München, wie geht's?" Und: "Glückwünsch zur Championship." Die Ärmel seines grauen Hemdes unter der schwarzen Weste sind trotz der Temperaturen von Beginn an hochgekrempelt, die Jeans ist eng, außergewöhnlich eng für einen 63-Jährigen.

Springsteen lacht ständig, besser: Er grinst. Es ist dieses Grinsen, das ihn so gut macht. Wie keinem anderen gelingt es ihm, Euphorie zu entfachen, das Gefühl, dass immer die Guten gewinnen. Natürlich ist das Quatsch, aber es funktioniert für die Stunden im Stadion, solange Springsteen auf der Bühne steht. Deshalb funktioniert das Konzert wie ein Gottesdienst, deshalb verachtet niemand Springsteens Pathos oder findet es banal, wenn er unermüdlich über die Bühne stampft und dabei durch die Zähne mit heiserer Stimme von Mädchen und Autos singt.

Manchmal fehlt der sackkratzende Moment

Hits wie "Glory Days", "Dancing in the Dark", "Pay Me My Money Down" und natürlich das unvermeidliche "Born in the U.S.A." führen zu Jubelstürmen. Es gibt aber auch selten gespielte Songs wie "Downbound Train" zu hören. Manchmal fehlt etwas der sackkratzende Moment, die phantastische E Street Band, verstärkt mit Bläsern und Background-Sängern, wirkt meist unterfordert und einigen Songs des aktuellen Albums "Wrecking Ball" mangelt es an hymnentauglichen Melodien. Doch das alles macht die manische Energie des Frontmannes vergessen. "Wir haben eine Mission", sagt er. "Wir sind hier, um zu liefern."

Das Stadion ist während des Konzertes oft taghell erleuchtet. Wo bei anderen Konzerten der Spot nur auf die Bühne, den Star, gerichtet ist und die Fans im Dunkeln bleiben, strahlen die vier Fluchtlichtmasten im Olympiastadion nun die 40.000 Zuschauer an: kein Unterschied zwischen dem da oben und denen da unten. Springsteen will ihnen allen in die Augen sehen, die ersten Reihen klatscht er immer wieder ab, nimmt Songwünsche entgegen. Das Bad in der Menge gibt es diesmal nicht. Dabei dürfte das Publikum mit den bunten Regenjacken und Plastikfolien von oben aussehen wie ein Bällebad für Kinder.

Immer wieder geht es in den Songs um Zorn oder Ausbeutung, die Zerstörung von Gemeinschaft durch Gier und räuberische Wirtschaftsunternehmen, um die Kehrseite des amerikanischen Traums, der schon immer nur eines war: Mythologie. So wie jedes andere Paradies auch. Doch Springsteen gelingt es durch seine Performance, die Fans glauben zu lassen, dass es sich lohnt, diesen Traum trotz allem weiter zu träumen.

Er weiß natürlich, dass die Rockmusik schon lange ihre Kraft eingebüßt hat. Dass sie die Gesellschaft nicht mehr verändern kann, es nicht einmal mehr schafft, eine Generation zu einen. Was der Mann aus New Jersey deshalb zwangsläufig vorführt, ist die ewige Sehnsucht des Publikums nach Authentizität. Doch das macht er so überzeugend, dass er für viele als Dolmetscher ihrer hungrigen Herzen fungiert. Sie überwinden zusammen mit ihrem Idol den grauen Alltag - wenn auch nur für zwei Stunden und 45 Minuten.

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