Spiele im Regal, auf dem Schrank, im Speicher, unter dem Bett. Sogar hinter den Vorhängen stapelten sie sich Anfang der Neunzigerjahre in Tom Wernecks Wohnzimmer. Das ging wohl eine Weile gut, aber schließlich meldete sich eine weitere Bewohnerin des Haushalts, Wernecks Frau, zu Wort. „Da hat sie gesagt, du hast jetzt die Wahl: die Spiele oder ich!“, erzählt er. Es ist Dienstagabend, und man sitzt in seinem Wohnzimmer. Gerade, als Werneck schmunzelnd über diesen vergangenen Konflikt berichtet, kommt seine Frau herein, und stellt eine frische Tasse Kaffee auf den Tisch. „Die Wahl war für mich sehr eindeutig: Die Spiele mussten raus“.
Als Tom Werneck 1996 das „Bayerische Spiele-Archiv Haar e. V.“ gründete und seine private Spiele-Sammlung somit in einen für die Öffentlichkeit zugänglichen Raum übertrug, war ihm schon lange bewusst, welchen kulturellen Stellenwert der Erhalt des Brettspiels hat. „Spiele zu entwickeln – da stecken Kulturleistungen drin“, betont er. Beruflich als Gesellschaftsspiel-Kritiker für die renommiertesten deutschsprachigen Zeitungen tätig und als Mitbegründer und Jury-Mitglied der Auszeichnung „Spiel des Jahres“, ist es nicht verwunderlich, dass sich stetig neue, meist sperrige Spiele-Kartons in seiner Post sammelten, mit denen die Verlage um seine Aufmerksamkeit buhlten.
Nach kurzer Zeit und ein paar Verhandlungen mit dem Bürgermeister von Haar konnten die Spiele endlich ausziehen, denn der erste Lagerraum stand fest: ein Kellerbereich unter dem Rathaus. Vielleicht etwas ungemütlicher als der Teppichboden in Wernecks Wohnzimmer, aber dennoch der erste Schritt zum Archivstatus. Jedoch reichte auch dieser Platz irgendwann nicht mehr aus. Der Standort blieb erhalten, aber die unaufhörlich wachsende Sammlung musste in zwei weitere Räumlichkeiten der Gemeinde, die offenkundig reges Interesse an dem Projekt zeigte, expandieren.
Eines Tages, irgendwann in den Neunzigern, bekam Werneck dann unerwartet einen Anruf. Richard Fechter, ein Nachbar, hatte von dem Archiv gehört, und wollte den Initiator gern kennenlernen. Die beiden wurden Freunde, und schließlich Komplizen im Feldzug um die Dokumentation der Spielkultur. Die erste gemeinsame Amtshandlung war ein Spieleabend im Rathaus.
Die Altersgruppen beim Treffen sind fast so divers wie die Vorgaben in den Spielanleitungen
Und hier kam der Stein, der Spielstein, möchte man sagen, erst so richtig ins Rollen: Mit offenen Türen hieß der abendliche Treff jeden zweiten Dienstag all die willkommen, die die freudige Nachricht des Events erreichte. In Altersgruppen, die fast so divers sind wie die Vorgaben in den meisten Spielanleitungen, 16 bis 99 Jahre, durchbrachen die Besucher die Barriere zwischen dem bis dato still ruhenden Archiv und der Öffentlichkeit.
Aus dem einen oder anderen regelmäßigen Gast ging bald ein ehrenamtlicher Mitarbeiter aus Eigeninitiative hervor, und schließlich begannen die Brettspielbegeisterten, nicht nur abends zu den Spieletreffs zusammenzukommen. Die Kellerräume des Archivs füllten sich auch tagsüber mit Helfern, deren Ziel es war, akribisch den Bestand zu katalogisieren. Hier handelte es sich längst nicht mehr nur um eine Spielesammlung, sondern um einen gemeinnützigen Verein. Tom Werneck und seine Diagnose des Kulturfaktors von Brettspielen wurde zur selbsterfüllenden Prophezeiung: Das „Bayrische Spiele-Archiv Haar“ war geboren.

Rund 20 000 Spiele in den Archivstandorten konnten sich sukzessive als kulturelle Institution durchsetzen. Und als solche werden sie heute auch genutzt. An demselben Dienstagabend, aber ein paar Stunden später, betritt man erstmals eine dieser Lagerräumlichkeiten, ein weitläufiger, uriger Kellerraum mit niedrigen rundlich geformten Decken. Er beherbergt nicht nur den größten Teil des Archivs in einem ausgetüftelten Sortierungssystem, sondern auch einen ganzen Flur mit Fachliteratur, Spielanleitungen und Strategiebänden. Neben einem langen Schreibtisch zieren gemütliche Stühle mit grünem Stoffbezug einen Gemeinschaftsraum, in dem man sich gut mehrere Stunden niederlassen, lesen und nachforschen kann, und das ist auch notwendig – denn einen Verleih gibt es nicht.
Regelmäßig pilgern Studierende aus verschiedensten Fachbereichen hierher
In einer Ecke sammelt sich ein Stapel mit mehreren Ausgaben desselben Spiels, „Memory“, vom Ravensburger Verlag. Handelt es sich hier um ausrangierte Dubletten? Nein, widerspricht Werneck, und auf den zweiten Blick wird klar: Identisch sind die Verpackungen nicht. Die Gestaltung des Logos variierte im Verlauf der letzten Jahrzehnte, und hier ist jede Version dokumentiert. Zuletzt habe ein Studierender dies genutzt, um für seine Thesis die visuellen Erscheinungsbilder miteinander zu vergleichen, berichtet Werneck. Das sei kein Einzelfall, regelmäßig pilgerten Studierende aus verschiedensten Fachbereichen hierher, um wissenschaftliche Nachforschungen unterschiedlichster Art anzustellen.
Wie populär das Archiv mittlerweile ist, bestätigt auch die Ansammlung an Einsendungen, die sich neben einem kleinen Computer auf einem Tisch auftürmen. Von großen Kisten aus Haushaltsauflösungen bis zu Päckchen mit Neuerscheinungen, teilweise noch ungeöffnet. Die kämen oft ohne Anfrage aus Eigeninitiative der Verlage und von Privatpersonen, bestätigt Christian Fürst-Brunner, der stellvertretende Leiter des Archivs. Ausprobieren würde er trotzdem so viele, wie es geht.
Gibt es die im Keller einsortierten Schätze also nie außerhalb der vier Wände zu sehen? Natürlich nicht. „Sag mir ein beliebiges Thema, und gib mir zwei Stunden Zeit, und ich hab’ die Ausstellung zusammen!“, betont Werneck, und meint damit: Ob die in der Rathausgalerie angesetzte Ausstellung mit Empfehlungen zur Weihnachtszeit oder eine Ausstellung zum Fledermaus-Artenschutz – Brettspiele gibt es zu allem, und sie machen sich hervorragend als Exponat.
Das alles erklärt wohl auch die Listung als „Vorbild zum Erhalt des Immateriellen Kulturgutes ‚Brettspiele spielen‘“ im Sinne der Unesco im Bayrischen Landesverzeichnis. Aber was heißt es überhaupt, ein Vorbild zu sein? „Versuch mal ein Spiel, das nicht ausgezeichnet wurde, nach fünf Jahren noch zu kriegen. Du hast genau zwei Chancen: Entweder zerfleddert vom Flohmarkt – oder gar nicht“, beurteilt Werneck den Verbrauch von analogen Spielen am Markt. Ein Spiel zu entwickeln, sei eine Kultur – sie zu dokumentieren ein Akt, für den das Spiele-Archiv in Haar sozusagen als Präzedenzfall vorangeht. Das habe der Staat jetzt begriffen, erklärt Tom Werneck.
Sein Einsatz hat sich ausgezahlt, sein Werk wird honoriert. Der kollektive Enthusiasmus sichert einen enormen Bestand an, so kann man es nennen, Kulturgütern. Die zweiwöchentlichen Spieletreffs gibt es mittlerweile an zwei weiteren Standorten in Aschheim und Karlsfeld, und sie ziehen Besucher für ein gemütliches Beisammensein in die Außenbezirke der Stadt. Ein Happy End also, das hinter den Vorhängen im Wohnzimmer begann, und mit Anerkennung als Kulturerbe endete – nur, dass es damit wahrscheinlich noch lange nicht vorbei ist.

