Brauchtum:Rettung aus tiefster Not

Unzählige Votivgaben bezeugen den Wunderglauben der Menschen vergangener Jahrhunderte. Aber auch in unserer aufgeklärten Zeit ist die Sehnsucht nach dem Unerklärlichen groß

Von Sabine Reithmaier

Eine Frau kniet in schmucker Tracht an einem Betstuhl. Sie blickt nach oben auf zwei Marien-Gnadenbilder. In der rechten Hand hält sie einen Rosenkranz, doch die linke Hand streckt den Madonnen etwas Rotes, Baumelndes entgegen. "Eine Lunge", sagt Christoph Kürzeder. Der Direktor des Freisinger Diözesanmuseums hat das Votivbild aus dem Jahr 1799 zufällig beim Inventarisieren wiederentdeckt. Irgendwie passt die Darstellung in die Zeit der Corona-Krise.

Woran die Frau gelitten hat, ist unbekannt. Vielleicht war es Lungentuberkulose, eine damals weit verbreitete und noch nicht heilbare Krankheit. Davon zeugen die vielen Lungen-Votive im Depot des Museums, ob in Silber geschmiedet oder ganz naturalistisch aus Holz geschnitzt, gelegentlich rot bemalt mit einem Herzen Jesu verziert, das sich zwischen die zusammengefallenen Lungenflügel schmiegt. Auf eine sehr anrührende Art dokumentieren sie menschliche Hilfsbedürftigkeit, erzählen von persönlichen Wundererfahrungen, von Hoffnungen, die sich wider alle Erwartungen erfüllt haben.

Brauchtum: Ein Votivbild von 1799: Die betende Frau hält den Marien-Gnadenbildern eine Lunge entgegen.

Ein Votivbild von 1799: Die betende Frau hält den Marien-Gnadenbildern eine Lunge entgegen.

(Foto: Chris Schalasky)

Die Votivgaben kleiden eine Erfahrung in Bilder, die eigentlich nicht fassbar ist. Ein Wunder ist schließlich eine unbegreifliche Begebenheit, über die der Mensch nur staunen kann. Die Hoffnung auf ein Mirakel war in der frühen Neuzeit oft das einzige, was blieb, wenn die Heilkundigen einen Kranken aufgegeben hatten, Krieg, Naturkatastrophen oder Seuchen hereinbrachen. Hoffen und beten - eine naturwissenschaftliche Alternative zum Wunderglauben existierte nicht.

Vermutlich hatte die elegante Frau mit Hut, trotz der Tracht sicher keine einfache Bäuerin, zu ihrer größeren Beruhigung sogar Gnadenbilder verschiedener Wallfahrtsorte um Genesung von der "Schwindsucht" angefleht. Sonst hätte der Maler wohl nicht zwei Marien auf dem Votivbild verewigt, links eine Maria Hilf, möglicherweise aus Vilsbiburg, rechts die Schwarze Madonna von Altötting. Mehrere Heilige um Beistand zu bitten, war nicht ungewöhnlich. In einem anderen Votivbild schweben sogar die vier Mariengnadenbilder von Wessobrunn, Altötting, Dorfen und Mariazell am Himmel, darüber der Wiesheiland und der "Heilige Wandel", also Maria, Josef und das Kind nach der Rückkehr aus Ägypten. Der Stifter Martin Omair, der bescheiden unten kniet, wollte wohl ganz sichergehen.

Brauchtum: Mit Pestsegen, aus Steinbockhorn geschnitzten Medaillons, versuchte man, sich zu schützen.

Mit Pestsegen, aus Steinbockhorn geschnitzten Medaillons, versuchte man, sich zu schützen.

(Foto: Chris Schalasky)

"Unsere schönsten Kunstgegenstände haben wir Wundern zu verdanken oder Menschen, die dachten, ihnen wäre ein Wunder widerfahren", sagt Kürzeder. Ein berühmtes Beispiel ist der "Silberprinz" in der Gnadenkapelle in Altötting. Das Reliefporträt stiftete Kurfürst Karl Albrecht im Jahr 1737, als sein einziger Sohn, der zehnjährige Kurprinz Maximilian III. Joseph, schwer erkrankte und wieder genas. Die Gelübde, oft in auswegloser Situation versprochen, mussten nach einer Heilung oder Besserung der Notlage eingelöst werden. Fast immer war die Pilgerfahrt an den Gnadenort mit einer Gabe verbunden. Die Mirakelbücher, die die Pfarrer an den Wallfahrtsorten führten, dokumentierten die Wunder übrigens genau. Die Orte standen in scharfer Konkurrenz, schließlich opferten die Gläubigen nicht nur Votivtafeln, sondern auch Geld oder ungeformtes Wachs für den Gottesdienst.

Auch wenn Votive heute selten geworden sind, ist das Bedürfnis, ein Gelöbnis zu bezeugen, ungebrochen. Davon erzählen heute die ungezählten Vorhängeschlösser an Brücken. Lauter Liebeszeichen, aufgeladen mit der Hoffnung auf eine dauerhaft glückliche Beziehung, wenn auch Scheidungs- und Trennungsraten eine andere Sprache sprechen.

Mit der Aufklärung begann die Entzauberung der meisten Wunder. Aber wissenschaftliche Erklärungen stoppen die Sehnsucht nach Wundern nicht. Das Institut für Demoskopie in Allensbach hat schon öfter nachgefragt, ob Deutsche an Wunder glauben. 1986 bei der ersten Untersuchung bejahten dies 33 Prozent, Ende 2017 betrug der Anteil 51 Prozent. Ein interessantes Ergebnis, signalisiert es doch, dass der Wunderglaube wächst, obwohl die Kirchenbindung schwindet. Tatsächlich hat in unserer Alltagswelt das Reden von Wundern inflationär zugenommen; es gibt Wunder der Technik, Naturwunder, Wunderwaffen, nicht zu vergessen das Wunder von Bern. Gerade im Sport scheint es ohne Wunder gar nicht mehr zu gehen.

Brauchtum: Eine holzgeschnitzte Lunge, mit dem Herzen Jesu.

Eine holzgeschnitzte Lunge, mit dem Herzen Jesu.

(Foto: Chris Schalasky)

"Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind", sagt Goethes Faust. Für die Theologie ist es eher ein Problemkind; sie überprüft angebliche Wunder längst mit wissenschaftlichen Methoden. In der frühen Neuzeit schlossen sich Magie und christliches Denken nicht aus. Die Kirche duldete halbmagische Praktiken, solange sie überwacht und interpretiert werden konnten. Inzwischen hat sich auch diese Denkform längst von der Kirche abgelöst, es mangelt nicht an Menschen, die das Corona-Virus als Strafe Gottes oder Rache der Natur interpretieren.

Allerdings habe bislang noch niemand versucht, die Stacheln des visualisierten Corona-Virus nachzubauen und in einem Amulett zu tragen, spöttelt Kürzeder. Als Gegengift zur Immunisierung, so wie man früher winzige silberne Miniaturpfeile in Pestamulette oder in Rosenkränze eingefügt trug. Sie erinnerten an das Martyrium des Heiligen Sebastian, den Kaiser Diokletian von Bogenschützen erschießen lassen wollte. Sebastian überlebte. Da ansteckende Krankheiten den Menschen aber wie Pfeile treffen, erkoren ihn die Gläubigen de zum Schutzpatron gegen Seuchen. Rochus dagegen, der Nothelfer gegen Pest, pflegte der Legende nach im 14. Jahrhundert Pestkranke in Rom, bis er selbst erkrankte, aber wundersam geheilt wurde.

Waren beide auf einem sogenannten Pestsegen vereint, galt das Medaillon, geschnitzt aus dem Querschnitt des Steinbockhorns, als besonders wirksam. An den Rändern waren die Pestsegen mit Heiligenreliquien gefüllt, winzigen Gegenständen, mit denen ein Gnadenbild berührt worden war. Die nahm man mit nach Hause, brachte sie auch zu kranken Verwandten. Weit verbreitet waren bis ins 20. Jahrhundert auch die "Schluckbildchen", in Reihen wie Briefmarken auf Bögen angeordnet, winzige Darstellungen von Heiligen oder Gnadenbildern, die man sich ganz konkret einverleiben konnte.

Richtige Medizinbeutel waren die "Breverl", kleine briefförmige Anhänger, die ein ganzes Paket an Schutz- und Heilmitteln enthielten: Gebete, Segenssprüche, Heiligenbildchen, vielfach übereinander gefaltet, die im Inneren oft auch noch Samen, Moose, Palmkätzchen, Holzsplitter oder Stoffstückchen enthielten. Öffnen durfte der Besitzer sie nur, wenn er die Kraft der darin enthaltenen Substanzen wirklich brauchte.

Und heute? Halten wir Abstand und tragen bald alle eine Maske. Solange die Experten freilich über deren Nutzen für uns noch uneins sind, müssen wir an ihren Sinn einfach glauben. Wieder einmal.

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