Boxwerk:Wer boxt, kommt besser durchs Leben

Boxwerk: Nick Trachte glaubt, Boxen sei eine Schule fürs Leben. "Man lernt ganz schnell, dass Selbstkontrolle erfolgreicher ist als auszuticken", sagt er.

Nick Trachte glaubt, Boxen sei eine Schule fürs Leben. "Man lernt ganz schnell, dass Selbstkontrolle erfolgreicher ist als auszuticken", sagt er.

(Foto: Stephan Rumpf)

David Alaba und Charles Schumann sind Stammgäste im "Boxwerk", einer Münchner Institution. Aber für Betreiber Nick Trachte ist die Arbeit mit Verurteilten und schwer erziehbaren Kinder genauso wichtig.

Von Philipp Crone

Der schmale Mann mit dem kurzen schwarzen Haar steht im fünften Stock eines leeren Gebäudes in Los Angeles einem Mexikaner gegenüber. Es sind fast nur Mexikaner da, ein paar Afrikaner, die acht Boxringe sind besetzt, und der 19-jährige Nick Trachte aus Deutschland ist neu. Er soll ein Sparring boxen, der Coach, dem Trachte zugeteilt wurde, hat das angeordnet. Die Mexikaner lächeln, "Deutschland gegen Mexiko" sagen manche, sie meinen es auch so. Trachte, 69 Kilo, 1,73 Meter, ist ein drahtiger Boxer und Schlagzeuger aus München. Trachte ist gut, kämpft unorthodox, aber hier in Los Angeles geht es anders zu als in München. Härter. Wenn er verliert . . . aber nein, er verliert nicht.

24 Jahre später sitzt Nick Trachte, 43, im Keller an der Schwindstraße und sagt: "Der ist mir dann reingelaufen." Das ist Boxisch und bedeutet auf Deutsch: Als ich gerade zu einem Schlag ausgeholt und durchgezogen habe, ist er genau in dem Moment nach vorne gegangen. Der Mexikaner ging in die Knie, und Trachte war von diesem Moment an anerkannt. Vor acht Jahren hat er sein "Boxwerk" in München eröffnet. Jetzt schaut der mit Muskeln eher unbepackte Mann aus seinem Büro auf ein paar Kinder, die erste Grundübungen lernen.

Boxen, ein brutales Kraftprotzen und Männchengehabe, wie damals in LA? Oder ein integrierender, intellektueller und ausgleichender Sport? Trachte lächelt. "Boxen ist vor allem Technik", sagt er, "manchmal haut ein Milchbubi einen Adonis weg, weil er technisch besser ist." Nicht getroffen zu werden ist wichtiger als zu treffen. Aber vor allem: "Boxen ist zu 70 Prozent Psyche." Und es ist Rhythmus, Timing, die Kunst des Schlages, "weniger ist oft mehr". Wie bei einem Schlagzeugspieler.

Trachte war Schlagzeug- und Box-Profi, als er damals für zwei Jahre nach Amerika ging. Deshalb auch LA, wegen der Musik- und Boxszene dort. Er war aber auch jahrelang Türsteher und Flugbegleiter, ist heute Box-Trainer, Unternehmer und Vater dreier Jungs. Er hat in den vergangenen Jahren eine große Lust an der Innovation und Box-Aufklärung entwickelt, der Stapel der Flyer und Karten seiner bisherigen Veranstaltungen ist dick wie ein Boxhandschuh. Boxen und Bar, Boxen und Musik, Boxen und Comedy. Boxen und Schach gibt es jeden Freitag, je drei Runden am Brett und im Ring wechseln sich ab. Trachte bringt die frohe Botschaft dieses Ur-Sports unter die Leute.

Für ihn ist diese Sportart Grundlage für alles andere, da kann der Fußball einpacken und vor allem lernen, was Bayern-Kicker David Alaba offenbar schon erkannt hat, denn der kommt regelmäßig zum Training. Sie ist aber auch die Grundlage von Trachtes Leben, für seine Einstellung und für seine Einkünfte.

Die Kunst des richtigen Schlages. Ein Schlag kann mit der Rechten oder Linken kommen, kann aber auch ein Blick sein, im richtigen Timing. Viele Kämpfe werden vor dem Kampf gewonnen, weil die Psyche eben so wichtig ist. "Mike Tyson wusste beim stare down", sagt Trachte und meint das Ritual des Gegenüberstehens der Gegner zu Beginn eines Kampfes, "wenn der andere wegschaut, hat er gewonnen."

Trachtes Vater, mit dem er an diesem Nachmittag Anfang März Mittagessen war, bevor er den Kindern beim Aufwärmen zusieht, war Karatekämpfer. Der Bundestrainer übernachtete bei Trachtes zu Hause, und der Sohn kam über Judo zum Karate. Sein Vater machte 1000 Liegestütze am Tag, heute mit 66 noch 20 Klimmzüge, und er begeisterte den Sohn dadurch für seinen Sport, dass er ihn nicht dafür begeisterte. Die Kunst des Weglassens. Nach Abitur und LA und diversen Konzerttouren als Drummer arbeitete Trachte zunächst ein Jahr im Motorradladen des Vaters mit, machte die Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. Er wusste schon: Er will unabhängig sein.

Unabhängigkeit ist die Basis, für den Schlagzeuger die Unabhängigkeit der vier Gliedmaßen, jede muss der Drummer einzeln ansteuern können, halbautomatisch. Und der Boxer darf nicht an seine Beine denken, wenn er im Ring steht. Die müssen automatisch immer die richtige reaktive Position einnehmen. Nie über die Ferse abrollen, auf den Ballen stehen, "wie eine Raubkatze", in jeder Millisekunde in jede Richtung springen können.

Selbst die Grundregeln des Boxens sind schon ungemein kompliziert

Trachte steht neben den Kindern, und auf einmal wird aus einem leicht hipsterigen Vollbartträger mit coolem Boxladen ein springender, wedelnder Organismus mit vielen Variablen. Wo tänzelt er hin? Federt er? Gleitet er? Was macht die Linke, was die Rechte? "Der Fuß, der meiner Bewegungsrichtung am nächsten steht, bewegt sich als erstes." Da muss man ja zum Philosophen werden, wenn die Grundregeln des Sports sich schon so lesen wie eine sportwissenschaftliche Abhandlung.

Barkeeper Charles Schumann ist mittlerweile 75 und auch im Boxwerk zum Training. Er sagt: "Nick ist einer von denen, die das machen, von dem alle sagen, dass sie es machen wollen, aber er zieht es durch." Die leicht ausladende Sprache bekommt man im Boxwerk offenbar auch gleich dazu antrainiert.

Boxen ist "Charakterbildung pur"

"Ich habe immer viele Dinge gleichzeitig gemacht, para-el", sagt Trachte. Manchmal lässt er nicht nur Schläge, sondern auch Buchstaben weg. Er spricht über die Uroma, "die war Zigeunerin", von ihr hat er wohl die Lust aufs Reisen; als die Cousine von ihrem Job als Flugbegleiterin erzählte, dachte Trachte: Ein Jahr will ich das auch machen. Um an anderen Orten Boxer und Drummer kennenzulernen. In Kuba zum Beispiel, und in den USA.

Das Unmittelbare, "das ist das Faszinierende". Es gibt nichts Direkteres als Schläge, im Sport und in der Musik. "Boxen ist wie ein Gladiatorenkampf, Eins gegen Eins." Mit wenigen Komponenten: "Es gibt drei Schlagdistanzen, lang, halb und nah. Und die Grundschläge sind die Gerade, der Seitwärts- und der Aufwärtshaken." Beim Schlagzeug gibt es in der Grundstruktur zwei Trommeln und ein Becken. Weniger ist mehr.

Mehr ist mehr gibt es aber auch. Auf die Zahl der Wiederholungen kommt es an, und auf die Kombinationen. Auf die Schlagfolge im Ring, während die Füße gleiten, auf die Schlagfolge im Song, während die Füße die Bassdrum spielen, auf die Verbindung von Boxen und Kultur. Zum Beispiel bei "Gym & Tonic", einer Party am 29. März in der Goldenen Bar im Haus der Kunst, da gibt es auch Boxwerker unter den Barkeepern. Oder wenn sich Kontrabassisten, Boxer und Comedians an einem Abend abwechseln bei "Box contra Bass".

Trachte bringt in seinem Boxwerk so ziemlich alles zusammen, was man zusammenbringen kann. Seine Trainer kommen aus Mexiko, Russland, Kroatien, der Schweiz, Irland, Italien oder Polen. Sein Sport verbindet Achtjährige mit 75-Jährigen, Banker und Flüchtlinge, Fitte, Fette, Verurteilte, Männer und Frauen, und zwar immer mehr Frauen. Und immer mehr Schulkinder, auch schwer erziehbare, die nicht für Wettkämpfe, sondern für ein normales Sozialleben trainieren.

"Beim Boxen ist permanent einer besser und einer schlechter", sagt Trachte. Das ist eine Herausforderung für eine Gruppe. Wer als Schwächerer mit Respekt vom Stärkeren behandelt wird, dabei einiges lernt und nicht verletzt wird, behandelt das nächste Mal den Schwächeren wahrscheinlich auch eher mit Respekt. "Das ist Charakterbildung pur." Obwohl es immer gegeneinander geht, ist es vor allem ein Miteinander. "Ali hat ja auch gesagt: Ich habe nie gegen jemanden gekämpft, immer nur für etwas." Für den Gürtel, für den Sieg. Oder, wie Trachte es formuliert: "Erst hauen sie sich auf die Zwölf, dann umarmen sie sich." Die Anerkennung für Leistung ist beim Boxen besonders groß, weil man diese Leistung besonders unmittelbar erfährt.

"F gleich M mal A", sagt Trachte. Die mathematische Erklärung, warum jeder Schlag im Fuß beginnt. Kraft ist Masse mal Beschleunigung. Die Faust kann man schon mit dem Fuß beschleunigen. "Körperbeschleunigen, über die Hüfte, schlagen, sofort entspannen und wieder zurückziehen." Wer immer angespannt ist, verliert beim Boxen. Denn ohne Entspannung keine flüssigen Bewegungen, das ist auch wie beim Schlagzeugspielen.

"Tyson hat gesagt, dass das Schlimme nicht die Schläge waren. Das Schlimme beim Boxen ist es, im Zentrum eines Millionenpublikums gedemütigt zu werden." Oder auch nur im Zentrum eines Rings im Keller der Schwindstraße 5. Das macht Angst, und mit dieser Angst geht ein guter Boxer besser um als ein schlechter. "Man muss sie nutzen. Und sich ihr stellen." Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Auch deshalb hilft das Boxen schwierigen Kindern. Sie können nicht weglaufen, müssen das Problem lösen, aktiv werden.

Klischee und doch ewig wahr: Boxen schult fürs Leben

"Man lernt unglaublich viel über sich selbst, wenn man zum Beispiel einen Fehler macht." Wie reagiere ich? Werde ich sauer, werde ich ausgekontert und verliere. Werde ich ängstlich, verliere ich auch. Bleibe ich cool und in der Taktik, kann ich gewinnen. "Man lernt ganz schnell, dass Selbstkontrolle erfolgreicher ist als auszuticken."

Die Psyche hat Trachte auch an den Clubtüren geschult. "Das war wie ein kleines Psychologiestudium." Wenn zehn Besoffene von der Wiesn kommen und nicht reindürfen. Erst deeskalieren, erklären, und wenn das nicht hilft: das Alphatier erkennen und dem signalisieren, dass er an einem vorbei muss. "Tief in die Augen schauen, nicht aggressiv, nicht provokativ, aber bestimmt. Und im schlimmsten Fall: schnell reagieren."

In LA ist er am Anfang öfter mal "mit Kopfschmerzen und einer blutenden Nase heimgekommen". Aber so wie der Drummer den Groove braucht, braucht der Boxer den Move. Spüren, dass alles eins ist, alles ineinandergreift und am Ende packende Musik oder wirkungsvolle Treffer rauskommen.

Trachte schaut an diesem Nachmittag den Kindern zu, die um leere Plastikflaschen herumtänzeln. Seine eigenen drei Jungs sind sechs und zweimal drei Jahre alt. Und seine Frau, eine Flugbegleiterin aus Ghana, weiß genau, welchen Sport die Kids ergreifen werden. "Denen taugt das schon total!" Und sie weiß auch, dass sie gut durchs Leben kommen werden.

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