"Boris Godunow" an der Staatsoper:Brave Regie, aufregende Musik

Boris Godunov Premiere Staatsoper 12.02.2013 PR-Bild
Eri Nakamura (Xenia), Alexander Tsymbalyuk (Boris Godunow), Dean Power (Leibbojar)

Kein Ort für Spaß, keine Zeit für Fröhlichkeit: Premiere von "Boris Godunow" an der Bayerischen Staatsoper.

(Foto: Bayerische Staatsoper)

Es ist die letzte große Premiere unter Leitung von Kent Nagano an der Bayerischen Staatsoper: Modest Mussorgskis russische Historienoper "Boris Godunow". Doch der spanische Skandalregisseur Calixto Bieito hat sie erstaunlich brav inszeniert.

Von Helmut Maurò

Es beginnt mit einer dunklen, traurigen Melodie auf dem Fagott, dem tiefsten Holzblasinstrument. Tiefe Streicher und Posaunen folgen, in einer Art verzweifelter Begeisterung fallen Geigen ein, schließlich übernimmt ein massives Blechbläserkommando.

Dirigent Kent Nagano steht mit gewohnter Ruhe im Orchestergraben der Bayerischen Staatsoper und hat das alles sehr präzise im Griff, ohne bei jedem klanglichen Überraschungseffekt gleich hysterisch zu werden. Hat er nicht nötig, ist auch nicht seine Art, die Historienoper "Boris Godunow" von Modest Mussorgsky ist noch lang, es wird noch viel passieren, bis sich der nach oben gemordete Fürst Boris an seiner eigenen Macht moralisch die Zähne ausbeißt.

In seiner ruhigen Souveränität hat Nagano das Münchner Publikum, und nicht nur das, seit Beginn seiner Chefposition an der Bayerischen Staatsoper begeistert. Vor sechs Jahren war das erst; es kommt einem vor wie eine Ewigkeit, so sehr hat Nagano das Orchester und den musikalischen Betrieb am Münchner Nationaltheater in dieser Zeit erfrischend neu geprägt.

Das instrumentale Vorspiel ist nur kurz, der spanische Skandalregisseur Calixto Bieito hat eine Phalanx martialisch aufgerüsteter Polizisten aufmarschieren lassen, dahinter versammelt sich protestwilliges Volk. Im Original des russischen Komponisten Modest Mussorgski, der den Operntext nach dem gleichnamigen Roman von Alexander Puschkin verfasst hat, versammelt sich das Volk im Hof des Nowodjewitschij-Klosters bei Moskau.

Bieito hält die Situation als überzeitliche und überörtliche Szene klassischer Machtverhältnisse fest. Klischeehaft eintönig kommt einem das heutzutage vor, man kennt die Bilder von Massendemonstrationen und war vielleicht auch hin und wieder schon mal hautnah involviert. Von Bieito hätte man mehr erwartet, er will doch die Schreckenswirkung der anonymen Staatsgewalt auf das Individuum zeigen und stellt stattdessen nur anonyme Polizeimasse gegen heterogen wabernde Volksmasse.

Kein Ort für Spaß

Nikititsch, der gewaltgeile Oberpolizist (eindrucksvoll gesungen von Goran Juric), prügelt ein bisschen auf die Leute ein und zwingt sie auf die Knie. Sie sollen den Boris Godunow als neuen Zaren anbeten und ihn damit in seine neue Rolle zwingen, von der er selber noch gar nicht überzeugt ist.

Er war enger Berater des verstorbenen Zaren, und die eigentlichen Strippenzieher im Hintergrund, allen voran Schtschelkalow (gesungen von Markus Eiche), Geheimschreiber der Duma, sehen in ihm einen willfährigen König. Nun gilt es nur noch, ihn zu überzeugen und die aufständischen Bojaren klein zu halten. Das geschieht vor allem mittels bombastisch angelegter Chor- und Orchestermassen, Posaunenfanfaren und großem Glockengeläut.

Manchmal ist es ein bisschen zu viel, und man wünscht sich vom Komponisten Mussorgsky, den man als einfallsreichen Gestalter der "Bilder einer Ausstellung" kennt, ein bisschen mehr Abwechslung in der musikalischen Gestaltung. Verglichen mit anderen Historienopern der Zeit wie zum Beispiel Alexander Borodins "Fürst Igor", bleibt Mussorgskys Musik über weite Strecken entweder dunkel flüsternd depressiv oder bombastisch aufschreiend depressiv.

Das meist durchgehend rezitativische Singen der - durchweg ausgezeichneten - Solisten klingt oft wie ein überdreht lautes Gemurmel, immer in Moll, immer klagend, anklagend, verzweifelnd, weinend, ausweglos. Kein Ort für Spaß, keine Zeit für Fröhlichkeit.

Der Schock bleibt aus

Regisseur Bieito hat diese klangliche Düsternis nicht etwa konterkariert, sondern die grandiose Niedergeschlagenheit Mussorgskys vollkommen in sich aufgesogen und eine Bühne voller Schwarz- und Brauntöne geschaffen, ein riesiges Holzgestell, in dem und um das herum sich die deprimierende russische Geschichte von Macht, Gewalt und Amoral abspielt. Und diese Geschichte ist nun auch in sich nicht so erzählt, dass man, selbst wenn man ganz nach vorne auf die Kante rutscht, vom Stuhl fiele.

Jemand wird an die Macht geputscht und benutzt das Volk, belügt und manipuliert es nach Kräften. Das ist unmoralisch. Aber das ist alltäglich. Das ist selbst in der etwas gesitteteren westlichen Welt trüber Alltag geworden. Und dazu hätte Bieito etwas mehr einfallen können als Plakatschilder lebender Politiker, die vom Volk hochgehalten werden, als wäre ein Politikergesicht als schiere Erscheinung Anklage genug.

Es gibt Phasen, da scheint die Musik still zu stehen in endlos rezitativischer Erzählung, und auch die Regie steht da still. Bieito lässt die Hauptfiguren, allen voran den fabelhaften Alexander Tsymbalyuk als Boris, viel herumstehen und sitzen. Nur wenn das Volk in Masse auf den Plan tritt, bewegt sich etwas. Das ist enttäuschend.

Bei Bieito gibt es normalerweise immer eine Szene, in der die Atmung aussetzt, in der man einen echten kleinen Schock abbekommt. Meist ist es die aus aller stumpfen Gewohnheit und kulturellen Verbrämung herausgeschälte nackte bluttriefende Gewalt, die schockiert und einen Teil des Publikums gleich so verschreckt, dass es aus der Theaterwelt herausgerissen ist und Regisseur und Intendanz mit dem zum Totschlag-Reizwort hochgejazzten "Regietheater" persönlich haftbar macht für die Theaterwirkung.

Kein einziges Buh

Diese Gefahr bestand diesmal nicht, das Regieteam bekam neben Nagano die entschiedensten Bravo-Salven, kein einziges Buh war darunter. Das sollte Bieito zu denken geben. Es gibt eine verschämt kleine Nebenhandlung, die etwas andeutet von dieser Bieito-Pointe. Als die Marketenderin mit ihrem Planwagen auftritt und Wein verkauft, hat sie ein kleines Mädchen dabei, das sie unvermittelt hinter den Wagen zerrt und dort verprügelt.

Und am Ende wird der "Gottesnarr" (empathisch gesungen und dargestellt von Kevin Conners) nicht nur wie vorgesehen von einer Kinderhorde versottet, sondern von einem Mädchen ausgeraubt und abgestochen, schließlich noch erschossen mit einem Revolver, den ihm Schuiskij, der einstige Mörder des legitimen Zarewitsch, in die Hand gedrückt hat. Der hatte das kongeniale Gewaltpotential des Kindes sofort gespürt. Aus diesem dünnen Faden und weiteren kleinen Interpretationssträngen hätte Bieito ein etwas stärkeres Regienetz spinnen können.

So aber blieb es, was auch nicht gerade wenig ist, bei einer vor allem musikalisch vorbildlichen Aufführung mit einem allerdings auch schauspielerisch großartig geführten Solistenensemble. Gerhard Siegel als Fürst Schuiskij und Anatoli Kotscherga als Geschichtsschreiber Pimen sind auf jeden Fall noch zu nennen, auch der ausgezeichnet vorbereitete Chor der Staatsoper inklusive Extrachor und Kinderchor, und natürlich das zur Höchstform auflaufende Bayerische Staatsorchester, das unter seinem scheidenden Chef Kent Nagano noch einmal alles gab.

Gäbe es einen Live-Mitschnitt, man müsste ihn sich sofort besorgen. Zumal man hier in München die seltener gespielte straffere Urfassung gab. Sie entstand 1868 bis 1870, ist beinahe um die Hälfte kürzer, dauert etwas über zwei Stunden und ist klarer und auch zeitloser in ihrer Anlage. Sie ist frei von 19.Jahrhundert-Schwulst und auch von den einschneidenden Ergänzungen durch Nikolai Rimsky-Korsakow.

Es kamen ja mehrere Szenen hinzu, darunter die "Polenbilder", in denen sich die Gegenmacht unter dem vermeintlich legitimen Thronfolger formiert, und vor allem die große Frauenrolle der Marina. Das Fehlen einer tragenden Frauenrolle war ein entscheidendes Argument für die Umarbeitung der Oper.

Trost für die Daheimgebliebenen: Die Bayerische Staatsoper überträgt "Boris Godunow" am 20. Februar um 20 Uhr live auf www.mezzo.tv und am 26. Juli, ebenfalls 20 Uhr, als Live-Stream auf www.bayerische.staatsoper.de/tv.

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