Boom-Region:Der Großraum München muss noch größer werden

Boom-Region: Mit den ersten warmen Sonnenstrahlen wird der Königsplatz zu einem beliebten Treffpunkt.

Mit den ersten warmen Sonnenstrahlen wird der Königsplatz zu einem beliebten Treffpunkt.

(Foto: Robert Haas)
  • Vor 40 Jahren hat die SZ eigene Lokalausgaben in den Landkreisen rund um München gestartet.
  • Aus diesem Anlass haben wir unsere Leser nach dem Lebensgefühl im Großraum gefragt. Die Ergebnisse sowie viele weitere Geschichten finden Sie im digitalen Dossier "Stadt, Land, Plus".

Von Kassian Stroh

Fast 100 Jahre lang hat die Masche gut funktioniert. München wuchs, brauchte Platz - und verleibte sich ein ums andere Dorf rundherum ein. Au, Haidhausen und Giesing waren 1854 die ersten, 1942 war mit Aubing und Langwied Schluss. Seitdem ist München gleich groß geblieben, doch die Bevölkerung wächst, derzeit so rasant wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Eine neue Masche muss her.

Rhetorisch ist sie längst gefunden: Die Stadt und ihr Umland müssen zusammenarbeiten, auf Augenhöhe, die Probleme gemeinsam lösen - seit Jahren ist dies das Mantra allseits. "Ohne das Umland wird es nicht gehen", sagt Planungsreferentin Elisabeth Merk. Und es ließe sich ergänzen: gegen das Umland auch nicht. Noch weniger ohne die Stadt. Zu hohe Immobilienpreise, zu wenige Wohnungen, zu viel Verkehr - die Probleme hier wie dort ähneln sich längst viel mehr, als der erste Augenschein vermuten lässt.

Ohne das Umland geht es nicht

Am kommenden Mittwoch trifft sich zum dritten Mal die Regionale Wohnungsbaukonferenz. Sie hat Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) vor drei Jahren ins Leben gerufen, und wo man sich auch umhört: Sie gilt als Ausdruck dessen, dass sich die meisten Kommunalpolitiker im Umland inzwischen ernst genommen fühlen von der Metropole. Lange verdächtigten sie die Münchner, nur ihre Probleme auf sie abwälzen zu wollen.

Ein neuer Geist war auch dringend nötig. Denn diesmal steht die Runde unter dem Eindruck neuer Zahlen: München hat soeben erneut seine Bevölkerungsprognose angehoben. Und das Statistische Landesamt erwartet derzeit knapp 400 000 mehr Menschen bis zum Jahr 2035, je zur Hälfte in München und in den umliegenden Landkreisen. Eine Münchner Spezialität. Das Wachstum in Berlin oder Hamburg etwa beschränkt sich auf die Metropole, wie Merk anmerkt. Wie gesagt: Ohne das Umland geht es nicht.

Die gute Nachricht: Es geht ja was. Sagt zumindest Christian Breu, Geschäftsführer des Planungsverbands Äußerer Wirtschaftsraum München. Seine Leute durchleuchten gerade die Flächennutzungspläne aller Kommunen, das endgültige Ergebnis liegt noch nicht vor, die Tendenz ist klar: Platz gäbe es genug, um all die Menschen unterzubringen. Vor allem entlang der S-Bahn-Linien, aber nicht nur in den umliegenden Landkreisen. Und dort entstanden im Jahr 2015 - neuere Zahlen gibt es noch nicht - 1000 Wohnungen mehr als im Münchner Stadtgebiet.

"Man kann Stadt und Umland beim Wohnungsbau nicht gegeneinander ausspielen", sagt Breu. Wichtig ist ihm nur: Wo Menschen hinziehen wollen, müssen auch die Arbeitsplätze entstehen - und umgekehrt. Um den täglichen Pendelirrsinn im Großraum nicht noch weiter zu steigern und um die Infrastruktur finanzieren zu können, die neue Wohngebiete nach sich ziehen: Straßen etwa, Kindergärten, Schulen. Gewerbe ist da einträglicher als Menschen.

Wie lassen sich solche Lasten und Nutzen gerecht verteilen - das ist nur eines der Themen, über die die Konferenz am Mittwoch debattieren wird. Ein anderes: Wie lässt sich schnell einfacher, günstiger Wohnraum schaffen?

München und das Umland sind überhitzt

Da kann München mit Expertise helfen, anderswo auch mit Geld: In Karlsfeld bezuschusst die Stadt den Bau eines Gymnasiums, mit Neubiberg läuft ein gemeinsames Planungsprojekt.

Die städtische Baugesellschaft Gewofag geht gerade im Stillen auf neuen Kurs und wird nach Jahrzehnten wieder im Umland aktiv. In Taufkirchen baut sie vier Dutzend Wohnungen, die günstig vermietet werden sollen; für zwei große Parkplätze dort sammelt sie zudem Ideen von Architekten, um Wohnblocks hochzuziehen. Die Liste ließe sich fortsetzen, die Zusammenarbeit von Stadt und Umland wird enger.

3,24 Millionen

Menschen sollen im Jahr 2035 in München und den umliegenden Landkreisen einschließlich Landsberg leben - so die offizielle Prognose. Das wären etwa 400000 mehr als heute. Der Zuwachs soll sich je zur Hälfte auf Stadt und Umland verteilen.

Beide eint ja auch dieses Schicksal: Anders als in Neuperlach vor 50 Jahren kann in diesem dicht besiedelten Großraum nirgendwo mehr gebaut werden, ohne dass Anwohner betroffen wären. In deren Naturell liegt es, sofort gegen solche Pläne zu Felde zu ziehen. Sollen in bestehenden Wohngebieten nachträglich neue Wohnungen entstehen oder Mehrfamilienhäuser anstelle alter Villen, ist der Protest groß. Nachverdichtung nennen das die Fachleute - und die Stadt München sieht darin langfristig mehr Potenzial, Wohnraum zu schaffen, als in der Ausweisung neuer Baugebiete.

Doch auch wo sie ganz neu plant, regt sich Widerstand: in Feldmoching etwa oder im Nordosten, wo die Stadt ein neues Quartier für 30 000 Menschen aus dem Boden stampfen will. Die örtliche CSU wettert schon gegen "Plattenbauten" und will allenfalls 15 000 Neu-Bewohner akzeptieren. Der Streit kocht gerade hoch. Im Stadtrat für den Bau bezahlbarer Wohnungen stimmen, vor Ort solche Projekte aber torpedieren - "das ist keine ehrliche Politik", wettert OB Reiter gegen den Koalitionspartner CSU. Entweder, oder. "Ich erwarte hier Lösungsvorschläge zum Wohl der Münchner und kein politisches Wahlkampfgetöse."

Und all das passiert vor dem Hintergrund, dass Bürger und Verbände wie der Bund Naturschutz immer lauter fordern, generell keine Grünflächen mehr zu opfern. Sein Argument: München hinkt ohnehin hinterher, die Wohnungen werden eh nicht reichen, dann kann man es auch gleich bleiben lassen und wenigstens die letzten Reste Grün bewahren. Regionalplaner Breu entgegnet: "Wer vor 20 Jahren hierher gezogen ist, hat das Recht, hier zu wohnen, in Anspruch genommen. Da kann er dieses Recht nun nicht anderen verweigern." Das lässt sich eins zu eins aufs Umland übertragen, wo die Beharrungskräfte wahrlich nicht geringer sind.

Aber was ist "das Umland" überhaupt? Da gibt es die Münchner Vororte, in denen der Platz inzwischen ebenso begrenzt ist wie diesseits der Stadtgrenze. Nur wer das gelbe Ortsschild am Straßenrand nicht übersieht, weiß, dass er inzwischen nicht mehr in München, sondern in Haar, Germering oder Karlsfeld ist.

Da gibt es weiter draußen aber auch Gemeinden wie Oberhaching, die kaum wachsen wollen, um nur ja dörflich zu bleiben. Das Bauerndorf Poing hingegen hat in den 80er-Jahren genau den gegenteiligen Kurs eingeschlagen; heute steuert das Dorf von einst auf die 20 000-Einwohner-Marke zu. Da gibt es viele Orte abseits der S-Bahn-Linien, in denen nach wie vor Einfamilienhäuser mit großen Gärten entstehen. In Freising, der größten Kommune im Münchner Umland, muss der Oberbürgermeister seinen Bürgern dagegen erklären, dass sie ihren Traum vom eigenen Häuschen vergessen können - angesichts knapper Flächen kann so etwas einfach nicht mehr ausgewiesen werden. Mancherorts im Umland ist die Bebauung längst viel dichter, mithin urbaner als in Münchner Stadtrandvierteln wie Trudering oder Aubing.

Wenn bauen, dann dicht - das ist stark verkürzt die Formel, die Münchens Planungsreferentin Merk verfolgt. Schon allein um Freiflächen und Grünzüge erhalten zu können. Dass das nicht nur ein Stadtthema ist, zeigt Josef Niedermaier (Freie Wähler), Landrat von Bad Tölz-Wolfratshausen, dem mutmaßlich ländlichsten Teil des Umlands. In bemerkenswerter Offenheit zieht er mit der Botschaft durch sein Land, dass die Dörfer und ihre Ortsbilder nicht so bleiben werden, wie sie sind: "Ich sage das in jeder Bürgerversammlung: Je näher an München, umso mehr werden sie sich verändern müssen."

Und wie weit soll das gehen? Nachgefragt bei Christoph Göbel (CSU), Landrat des Landkreises Münchens. 340 000 Menschen wohnen dort inzwischen, fast 60 000 mehr als Augsburg. Es gibt keinen Kreis in Deutschland mit größerer wirtschaftlicher Dynamik. Deshalb pendeln hierher inzwischen jeden Tag mehr Menschen aus München als umgekehrt Landkreisbürger in die Metropole hinein. "Einfach nur höher bauen - diese Urbanisierung würde die Bevölkerung nicht mitmachen", glaubt Christoph Göbel. Auch weil dies dem Standort München einiges an jener Qualität nähme, die ihn ausmache: die Identitäten einzelner Dörfer und Stadtteile, die Freiräume.

Der Kern des Großraums, also München und sein direktes Umland, seien überhitzt - das müsse man abkühlen. Doch dafür müsse man den Blick weiten auf Städte wie Mühldorf oder Landsberg, dort mehr Firmen ansiedeln und Menschen. "Polyzentral, das ist die einzige Lösung", sagt Göbel. Und das alles mit guten Bahnverbindungen, auch wenn das Milliarden Euro kosten werde. Anders gehe es nicht. "Wir fahren hier ja teilweise noch eingleisig und ohne Strom - das ist doch abenteuerlich."

Der Großraum soll also noch größer werden, mit mehr mittelgroßen Zentren als nur einem übergroßen - dass das womöglich die Zukunft ist, lässt sich auch an der Wohnungsbaukonferenz am Mittwoch ablesen. Zweimal fand sie in München statt, diesmal trifft man sich in Ebersberg. Als Zeichen dafür, dass Stadt und Umland sich tatsächlich auf Augenhöhe begegnen. Der Ort für das Treffen 2018 steht auch schon fest. Der liegt ein ganzes Stück weiter draußen - es ist Rosenheim.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: