Boom der Freikirchen:Glaube, Liebe, Discokugel

Ihren Gottesdienst nennen sie Celebration, und ihr Pfarrer ist ein smarter 35-Jähriger, der sonntags viermal predigt, weil ihn so viele hören wollen. Die Münchner Kirche "International Christian Fellowship" gibt sich hochmodern - doch dahinter steht ein einfaches Weltbild: Fundamentalismus 2.0?

Charlotte Theile

Boom der Freikirchen: Pfarrer Tobias Teichen bei der Predigt: Seine Kirche fordert ihre Gläubigen dazu auf, alle Bereiche des Lebens mit einem 100-Tages-Plan zu optimieren

Pfarrer Tobias Teichen bei der Predigt: Seine Kirche fordert ihre Gläubigen dazu auf, alle Bereiche des Lebens mit einem 100-Tages-Plan zu optimieren

(Foto: Stefan D. Zoltner)

"Gott ist kein süßes Löwenbaby!" - Pfarrer Teichen, den alle hier nur Tobi nennen, ruft den Satz in den Raum. Ihm ist wichtig, dass jeder, der heute zum Gottesdienst gekommen ist, diese Botschaft mitnimmt. "Gott ist kein kleines Tierchen, das Du in den Arm nimmst und kuschelst und sagst: Oh, wie süß! Er ist ein großer starker Löwe, vor dem man auch mal Angst, Ehrfurcht haben soll." So wie bei Aslan, dem Löwen in "Die Chroniken von Narnia". Gerade lief ein Ausschnitt aus dem Film, volle Power der Sound, damit es bei allen, die sich an diesem Sonntag im Neuraum, einer Diskothek an der Hackerbrücke, versammelt haben, auch wirklich Klick macht.

Viermal hintereinander hält Teichen seine Predigt, viermal lässt er Arslan von der Leinwand fauchen, viermal zertritt er ein Schubladengerüst aus Pappe - "Lass Gott Deine Schubladen sprengen!" Die Botschaft des Gottesdienstes, Celebration genannt, lässt sich mit "Gott ist groß" zusammenfassen, der Herr ist allmächtig. Dass sie gleich viermal verkündet wird, ist das Interessante an diesem Sonntag: ICF (International Christian Fellowship) München wächst so rasant, dass es vier Predigten braucht, um allen Gläubigen gerecht zu werden.

Einflussreiche Evangelikale

In Zeiten, in denen Landeskirchen Gemeinden zusammenlegen, Pastoren-Stellen nicht wieder besetzen und jedes Jahr mehr Mitglieder beerdigen als taufen, ist das, was hier geschieht, eine Sensation. An einem normalen Sonntag kommen etwa 1000 Besucher - und, was noch sensationeller ist, sie sind im Durchschnitt 30 Jahre alt.

Evangelikale Bewegungen, zu denen ICF gehört, standen in den vergangenen Wochen im Fokus der Öffentlichkeit. In Deutschland sind Evangelikale nur ein kleiner Teil der christlichen Gemeinde. Doch ihr Einfluss steigt.

Zwischen den Celebrations an diesem Sonntag bei ICF wird es voll im Eingangsbereich. Es gibt Getränke zu kaufen, eine Bücher-Ecke, in der Beziehungs- und Familienberater ausliegen, erstaunlich oft und konkret werden "Wege zu einer erfüllten Sexualität in der Ehe" gewiesen. Junge Eltern, oft mit mehreren Kindern an der Hand, begrüßen sich herzlich, man umarmt sich gern im ICF.

Jane und Silke stehen in der "Info-Lounge" neben dem Eingang zur "Celebration Hall", sie haben laminierte Namensschilder und ein offenes Lächeln. "Man erkennt das sofort, wenn jemand zum ersten Mal hier ist" sagt Jane. Vor ihr liegen Flyer, "100 Prozent" steht darauf und "Was erwartest du vom Leben?" Ein schöner Flyer. Immer wenn sie mit jemandem sprechen, fällt dieser Halbsatz, auch in den Predigten kommt er vor: "Wenn Du magst." Jedes Angebot, jedes "Schau es Dir doch einmal an" endet mit "wenn Du magst".

"Was erwartest du vom Leben?"

Wer sich bei ICF engagiert, weiß, wie er der Gemeinschaft und Gott am besten dient. Auch, wenn Presse da ist. Pfarrer Tobi hat, wie er sagt, "die Anweisung herausgegeben", dass nur er kommuniziert. Ein Pressesprecher schickt später Fotos, Fragen zu Biografie und Funktion in der Kirche beantwortet er nicht. Wenn Unternehmen expandieren, viel auf dem Spiel steht und die Konkurrenz versucht, Strategien auszuspähen, läuft es ähnlich.

Gibt es Grenzen der Toleranz? Offenbar schon

Allerdings: ICF stellt alle Predigten als Video-Podcast online. "Gibt es Grenzen der Toleranz?" fragt Teichen dort im Sommer 2011 und erklärt, was nicht geht. Sex vor der Ehe zum Beispiel oder "Gott aus einem Lebensbereich aussperren". Zumindest, wenn man in der Kirche Verantwortung übernehmen will. Wer das tut, ist Vorbild, muss versuchen, Jesus sein Leben lenken und bestimmen zu lassen. Homosexualität geht dann auch nicht, gibt Teichen widerwillig zu: "Wer auf der Bühne steht, ist mit seinem Leben Beispiel."

Boom der Freikirchen: Viermal Gottesdienst, viermal volles Haus: In der Discothek Neuraum finden jeden Sonntag vier "Celebrations" statt.

Viermal Gottesdienst, viermal volles Haus: In der Discothek Neuraum finden jeden Sonntag vier "Celebrations" statt.

(Foto: Stefan D. Zoltner)

Was es heißt, Beispiel zu sein? Unterschiedlich, und für Frauen etwas anderes als für Männer. Die Predigten erzählen, wie verschieden die Geschlechter sind: Männer sind stark, fokussiert, manchmal unbeherrscht, Frauen gefühlvoll, unsicher, auf der Suche nach Liebe. Das Bibel-Zitat "Ihr Frauen, ordnet Euch Euren Männern unter; so ist es für Frauen angemessen, die sich zum Herrn bekennen" lässt wenig Spielraum für Interpretation. Vielleicht wird es bei ICF gerade deshalb gern verwendet. Die Führungsfigur des ICF, Leo Bigger, bekennt sich auf seinem Blog offen zu dem Zitat und einem klarem Rollenbild.

Wir sind jung, wir sind wild, wir machen Fehler

In der Mittagspause nach Gottesdienst Nummer Zwei hat Tobias Teichen Zeit, vier Stunden, die er sonst im Fitness-Studio verbringt, anschließend Sauna, dann eine halbe Stunde Schlaf. Vier Entertainment-Gottesdienste, das ist Hochleistungssport. Teichen trägt Jeans, Sneakers, seine kurzen, dunklen Haare sind akkurat geschnitten, er ist immer tadellos rasiert - leicht nachzuprüfen im Video-Podcast. Seine T-Shirts passen farblich zum Hintergrund, trotz Scheinwerferlicht schwitzt er nicht.

Ohne die gute Ausleuchtung bemerkt man Ringe unter seinen Augen. Vor acht Jahren hat der 35-Jährige mit seiner Frau eine Kirche gegründet. Das Vorbild: ICF Zürich, seit 1996 von dem Prediger und Beziehungsratgeber Leo Bigger als Jugendkirche mit starkem Expansionswillen geführt.

"Wir sind jung, wir sind wild, wir machen Fehler." Das sagt Teichen zum Beispiel, wenn es um Reinhard Bonnke geht, der 2011 im ICF Zürich zu Gast war. Bonnke ist Evangelist im großen Stil. Über 120 Millionen Menschen, mit Vorliebe in Afrika, hat er bekehrt, so steht es auf seiner Homepage. Bei Großveranstaltungen heilt er angeblich Krankheiten, befreit von Dämonen. Vorbild einer Szene, in der gerettete Seelen als Statussymbole gezählt werden? Teichen lobt Bonnkes Leidenschaft. Ansonsten sei "nicht alles, was Bonnke sagt, unsere Meinung". Was er anders sehe? "Ich schreie nicht ins Mikrofon." Auch liege sein Fokus nicht so sehr auf Bekehrung.

Alles durchgeplant: Ernährung, Geld, Pornografie

"Christsein ist ein Lebensstil" predigt Tobias Teichen. Lebensberatung, die im Alltag etwas verändert, das ist sein Ziel. "Chazon. Göttliche Lebensqualität entfalten", heißt ein Arbeitsheft, darin ein Test, 110 Fragen, um "Gaben" zu erfassen. Die Auswertung: "Der Apostel", "Der Evangelist" oder "Die Antenne für göttliche Wahrheit".

Ob es um Ernährung, Geld oder Pornografie im Internet geht: Alle Bereiche des Lebens sollen per 100-Tages-Plan optimiert werden. Beim Erreichen der Ziele hilft die Gemeinde, beziehungsweise die Small Group, wo die Gläubigen "radikal ehrlich", wie Teichen sagt, zusammenkommen.

Der Slogan "Eine Kirche für Nichtkirchengänger", den ICF auf bunten Fahnen vor dem Neuraum verkündet, ist irreführend. Es sind keine Atheisten, die hierher kommen, es sind ehemalige Katholiken, Freikirchler, Baptisten. Junge Menschen, die es ernst meinen mit dem Glauben, die ihre Freizeit der Gemeinde opfern und begeistert von Gott erzählen. "Die hätte natürlich jeder gern" - ein bisschen Neid ist dabei, wenn Rudi Forstmeier, evangelischer Fachmann für Sekten und -Weltanschauungsfragen über ICF spricht. Er ist überzeugt: Die Kirche versucht, trotz gegenteiliger Beteuerungen, abzuwerben.

Boom der Freikirchen: Mit modernen Bands, Lightshow und zwölf gut aussehenden jungen Leuten auf der Bühne erreicht ICF den Sex-Appeal eines Robbie-Williams-Konzerts.

Mit modernen Bands, Lightshow und zwölf gut aussehenden jungen Leuten auf der Bühne erreicht ICF den Sex-Appeal eines Robbie-Williams-Konzerts.

(Foto: Stefan D. Zoltner, ICF München)

"Luther hat damals modernste Sprache verwendet und Kneipen-Lieder betextet", sagt Teichen. "Dass wir diese Texte und Lieder noch Hunderte Jahre später verwenden, damit hätte er nie gerechnet." Luther war es, der "dem Volk aufs Maul schauen" wollte.

Mit modernen Bands, Lightshow und zwölf gut aussehenden jungen Leuten auf der Bühne erreicht ICF den Sex-Appeal eines Robbie-Williams-Konzerts. In Freising, Erding, Dachau, Fürstenfeldbruck, Ebersberg finden seit kurzem "Vision-Nights" statt.

Fundamentalismus ist ein Wort, das verurteilt. Wer über ICF spricht, kommt nicht darum herum. Forstmeier benutzt es ungern, sein katholischer Kollege Axel Seegers schon. In vielen Städten Europas ist ICF aktiv, nicht überall läuft es so gut wie in München. Fest steht, dass sie expandieren wollen. Und dass sie Grundsätze vertreten, die nur heile Familien mit klarer Rollenverteilung hervorbringen.

Teichen kennt die Sektenberater. Er weiß, dass Eltern fragen, was man davon halten soll, wenn das Kind zu ICF geht. "Eigentlich geht es doch nur um die eine Frage: Ist das gefährlich oder nicht?" sagt er, fast so, als wüsste er die Antwort auch nicht.

(*Anmerkung der Redaktion: Viele Leserbeiträge weisen darauf hin, dass nicht klar wird, warum das Wort Fundamentalismus verwendet wird. In der SZ vom 10.11. 2012 stand dieser Artikel neben einem Interview mit dem katholischen Sekten- und Weltanschauungsbeauftragten Axel Seegers, der ausführlich erklärt, warum er den Begriff für angemessen hält. Ob man ICF für fundamentalistisch hält, ist eine Frage, die wir nicht beantworten - weil es nicht eindeutig ist. Jedoch: Wann immer man über ICF spricht, geht es um Fundamentalismus und seine Abstufungen. Man kommt also nicht umhin, das Wort zu benutzen, obwohl es verurteilt und vereinfacht.)

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