Süddeutsche Zeitung

Bogenhausen:Mein Quadratmeter München

Für das Projekt "wERDschätzung' des Multimedia-Künstlers Freifrank fassen Menschen in einen Baumwollrahmen, was ihnen lieb und teuer ist. So entsteht ein Gemeinschaftswerk

Von Renate Winkler-Schlang, Bogenhausen

Es kann ein Balkon mit Blumen sein, Moos in Moosach, ein Stück Strand, eine Blumenwiese, knorrige Wurzeln im Wald, Pflaster vor der Haustür in Perlach. Für Marc Haug ist es natürlich eine Fläche nahe beim Ökologischen Bildungszentrum, das er gemeinsam mit Ulrike Wagner von der Volkshochschule leitet. Im Projekt "wERDschätzung" bittet er Menschen, einen weißen Stoffrahmen über ein Fleckchen Erde auszubreiten, das für sie eine besondere Bedeutung hat. Sie machen diesen Quadratmeter für einige Minuten zu etwas ganz Besonderem. Die Teilnehmer sollen die Aktion dann dokumentieren für ein gemeinschaftliches Kunstwerk.

Marc Haug hat das Projekt, das so gut zum Jahresthema des ÖBZ "Was die Erde hergibt" passt, nicht erfunden. Er hat es gefunden und sofort gut gefunden. Unabhängig von ihm war auch seine Kollegin Wagner aufmerksam geworden, beide waren sich sicher: "Das muss was fürs ÖBZ sein." Initiator von wERDschätzung ist der aus München stammende, in Weilheim lebende Multimedia-Künstler Frank Fischer, Künstlername Freifrank. Er wurde nach eigenen Worten dazu inspiriert durch die Berliner "Erdfest"-Initiative, die stets zur Sommersonnwende die Erde feiert. Er habe dort bei einem Workshop erlebt, wie intensiv sich Seminarteilnehmer mit einem Eimer voll Humus "verbinden" konnten, meditativ, spirituell oder auch spielerisch, erzählt Fischer. Haug sagt, das Schöne an dem Projekt mit der sinnbildlichen Wortschöpfung, die aus Erde und Wertschätzung einen neuen, fast logisch erscheinenden Begriff macht, seien die vielen Möglichkeiten des Zugangs. Der eine beklage etwa am Mittleren Ring "die Erde, die schon weg ist" und sehe das Projekt politisch, der andere zelebriere es als meditative Achtsamkeitsübung: "Es lässt wahnsinnig viel zu." Fischer habe schon recht: Es passe ins Verständnis der "Sozialen Skulptur", wie Joseph Beuys sie sah. "Jeder ist ein Künstler", zitiert auch Fischer. Jeder könne sich hier beteiligen, sich einbringen in seiner ganz subjektiven Weise. Framing, das Konzentrieren auf etwas in einem Rahmen Begrenztes, nutze die Wissenschaft etwa beim Kartieren eines Biotops. Die Kunst stelle Schönes in Rahmen aus. In diesem Fall aber gelte am Ende: "Das Gesamte ist das Kunstwerk", also die Sammlung all der in Szene gesetzten Blumen und Flechten, Moose und Wiesen. In München habe das Projekt "natürlich auch was Urbanes", weiß Haug. Äußerst wichtig sei es gerade in der Großstadt, sich auf die Erde zu besinnen, jedoch eben wertschätzend und "nicht ideologisch".

Wer mitmacht, schickt sein Bild und Video, seine genauen Geodaten, aber auch ein paar Worte dazu: Warum liegt mein Rahmen gerade hier? Das Schreiben steigere und intensiviere den Reflexionsgrad, lobt Haug. Bei Angela Dorscht, Künstlerin, war es so: "Das finde ich genial, da muss ich mitmachen", dachte sie spontan, lieh sich den Baumwoll-Rahmen und legte ihn behutsam über ihr "Moos in Moosach". Schon lange habe sie sich mit diesen faszinierenden, überaus genügsamen Pflanzen befasst, die keiner so recht möge. Dabei müsse man sie willkommen heißen als Indikator für eine langsam wohl doch wieder sauberere Luft in der Stadt, sagt sie.

Ulrike Krakau-Brandl aus Perlach hat ihren Rahmen über Pflaster in der Nachbarschaft gebreitet, einfach weil sie sich freute, dass die akribisch aus den Ritzen entfernten Kräutlein und Halme sich doch immer wieder aufs Neue ans Licht kämpfen und Terrain erobern. Eine weitere Teilnehmerin, Marion aus Giesing, die therapeutisch arbeitet, will mit ihrem Rahmen auf die Wandlungsfähigkeit des Baumes in ihrem Vorgarten aufmerksam machen und auf die Freude darüber, dass er ihr in jedem Frühling einen rosaroten Blütenteppich schenkt. An dem Projekt gefalle ihr die schöne Leichtigkeit, mit der man zu tiefen Einsichten und berührenden Erlebnissen kommen könne. Auch Kinder und Jugendliche machen gerne mit, bei Geburtstagsfeiern oder Umweltkursen im ÖBZ. Sie stellen Hände oder Füße auf den Rahmen, den sie über karge Wurzeln oder auf Waldboden spannen, und fühlen sich "geerdet". Andere fotografieren Kräuterkästen auf ihrem Balkon und fragen sich: "Wo ist die Erde im engen Haidhausen?"

Humus und Human, Erde und Mensch, das habe im Lateinischen nicht umsonst den gleichen Wortstamm, sagt Fischer. Er begleitete die wERDschätzung erst kürzlich mit einer sehr emotionalen Augenkontakt-Aktion auf dem Odeonsplatz. Fischer ist dabei, das Projekt auf andere Orte wie Landsberg oder Benediktbeuern auszuweiten. Viele nehmen ihren Rahmen mit auf Reisen, an den Strand, ins Meer. "Jeder zeigt da auch seine innere Natur", sagt der Initiator. Einer der Rahmen ist derzeit unterwegs in den verbrannten brasilianischen Regenwald: Künstler Fischer hätte es am liebsten "erd-umspannend".

"Alles Unikate" freut sich Marc Haug am Eingesandten. Er hat natürlich selbst mitgemacht, mehrfach sogar. Das ÖBZ verleihe noch einige Wochen weiter die Stoffvierecke. Am Sonntag, 17. November, 14.30 Uhr, wird es dort im Haus an der Englschalkinger Straße 166 eine multimediale Gesamtschau dazu geben. Die abwechslungsreiche Bildersammlung wird dann bis 18. Dezember ausgestellt.

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Quelle:
SZ vom 20.09.2019
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