Süddeutsche Zeitung

Bogenhausen:"Expedition ins Ungewisse"

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Der Bezirksausschuss fordert, den städtebaulichen Wettbewerb für die SEM Nordost zu stoppen, bis die Finanzierung des notwendigen Bahntunnels zwischen Daglfing und Johanneskirchen gesichert ist

Von Ulrike Steinbacher, Bogenhausen

Es war ein denkwürdiger Dienstagabend, selbst für den Bezirksausschuss (BA) Bogenhausen, und lang war er auch. Um fünf nach zehn machte die Mikrofonanlage vorübergehend schlapp, um halb elf schaltete jemand probeweise das Licht aus. Die Lokalpolitiker ließen sich davon aber nicht beirren und diskutierten vor etwa hundert Zuhörern gut drei Stunden lang über ihren ersten Tagesordnungspunkt: das geplante Stadtviertel zwischen Daglfing und Johanneskirchen, bekannt unter dem Kürzel "SEM Nordost".

Kurzer Rückblick: Um das Quartier im Nordosten Bogenhausens zu entwickeln, hat sich der Stadtrat 2011 für eine SEM als planungsrechtliches Instrument entschieden, eine Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme. Sie sieht als letztes Mittel die Enteignung unkooperativer Grundstückseigentümer vor - für die Anwohner ein "Damoklesschwert", gegen das sie sich immer heftiger wehren. Die Verantwortlichen dagegen betonen stets, dass es zu Enteignungen auf keinen Fall kommen wird.

Noch ist die SEM nicht endgültig beschlossen, seit 2013 laufen dafür Voruntersuchungen. Aus ihnen hat die Stadtverwaltung den Schluss gezogen, dass im Nordosten ein Großquartier mit 30 000 Bewohnern und 10 000 Arbeitsplätzen möglich ist, unter der Voraussetzung, dass die Schienen von S 8 und Güterzügen zwischen Daglfing und Johanneskirchen in einen Tunnel verlegt werden. Auf dieser Basis entwickelte das Planungsreferat drei Bebauungsmodelle, die bei Bürgern wie Bezirksausschuss mehrheitlich auf Ablehnung stießen - zu groß, zu klotzig, zu wenig in die Landschaft eingepasst. Auch wegen des Drucks aus Bogenhausen schlug Stadtbaurätin Elisabeth Merk 2017 vor, zusätzlich einen städtebaulichen Ideenwettbewerb auszuschreiben, um neue Gestaltungsvorschläge einzusammeln. Die Vorgaben für die Architekten sind in einem 40-seitigen Eckdatenbeschluss zusammengefasst, über den der Stadtrat Anfang 2019 abstimmen soll. Am Dienstag hatte der Bezirksausschuss Bogenhausen Gelegenheit, zum Entwurf Stellung zu nehmen.

Mit Ausnahme der FDP hatten alle Parteien Änderungen und Ergänzungen formuliert. Die Änderungswünsche, oft kategorische, überwogen deutlich, und es war die CSU, die die meisten von ihnen durchsetzte. Knappe Abstimmungen gingen 17:14 aus, die beiden FDP-Vertreter und ein Grüner lieferten jeweils die Mehrheit.

Gegen die sieben Stimmen der SPD forderte das Gremium erst einmal grundsätzlich, dass der Eckdatenbeschluss - und damit die gesamte "SEM Nordost" - zurückgestellt wird, bis das Projekt Bahntunnel endgültig geklärt und die Finanzierung gesichert ist. Die Kosten werden momentan auf 2,3 Milliarden Euro geschätzt, eine Fertigstellung bis 2037 anvisiert. Der städtebauliche Wettbewerb sei der "Startschuss für eine Expedition ins Ungewisse" und müsse daher bis zur Klärung gestoppt werden, sagte Robert Brannekämper (CSU).

In einem zweiten Schritt lehnte der Bezirksausschuss - wieder gegen die SPD - Eckdaten und Planungsziele des Wettbewerbs grundsätzlich ab. Einig waren sich die Stadtviertelvertreter darin, dass die Großsiedlung für maximal 25 000 Menschen ausgelegt werden, dass der Wettbewerb aber auch Vorschläge für 10 000, 15 000 und 20 000 Einwohner machen soll. Die Zahl der Arbeitsplätze wollen die Lokalpolitiker einmütig auf 2000 begrenzen.

Gegen die SPD lehnte der BA die Verlängerung der U 4 zur Messestadt samt Ringschluss mit der U 2 ab, ein Projekt, das die Nachbarn in Trudering-Riem positiv aufgenommen hatten. Die Bogenhauser dagegen befürchten, sich mit dem U-Bahn-Ringschluss quasi durch die Hintertür eine extreme Verdichtung aufzuhalsen: Wenn die Münchner Verkehrsgesellschaft für die Finanzierung die üblichen Fahrgastprognosen zugrunde lege, müsse man mit 80 000 Bewohnern im neuen Quartier rechnen, sagte Angelika Pilz-Strasser (Grüne). Doch auch die von den Grünen stattdessen vorgeschlagene U-Bahn-Endstation im SEM-Gebiet fand keine Mehrheit. Die CSU beharrte auf einer Verlängerung der U 4 lediglich bis zum S-Bahnhof Englschalking. Die Seilbahn-Idee der ÖDP fiel durch, der SPD-Antrag, eine Tram-Verlängerung von der Cosima- über die Johanneskirchner Straße ins SEM-Gebiet zu prüfen, scheiterte knapp. Ein Bussystem könne "wesentlich eleganter" auf die Entwicklung reagieren, sagte Brannekämper. Mit knapper Mehrheit votierte der Bezirksausschuss auch gegen die Wettbewerbsvorgabe, eine Straßenanbindung nach Süden, etwa via Schatzbogen, auch nur zu untersuchen. Schon heute ersticke der Münchner Osten im Verkehr, sagte Xaver Finkenzeller (CSU) dazu. Christiane Hacker (SPD) dagegen warnte vor "Individualverkehr pur", wenn der BA weder zu U-Bahn noch zu Tram Aussagen treffe. Ohne öffentlichen Nahverkehr sei Daseinsvorsorge nicht möglich.

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SZ vom 15.11.2018
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