Bogenhausen:Der Club der toten Dichter

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Liesl Karlstadt, Oskar Maria Graf, Rainer Werner Fassbinder - sie alle ruhen in Frieden. Ein literarischer Spaziergang über den Friedhof von St. Georg in Bogenhausen.

Christian Mayer

Es muss ein inspirierender Ort sein, sonst würde Gisela Maria Schmitz nicht so viel Zeit hier verbringen. Manchmal, wenn die Sehnsucht nach ihren Lieblingsdichtern groß wird, hat die Theaterregisseurin rote Tulpen dabei, eine für Erich Kästner und eine andere für Oskar Maria Graf; jedes Jahr am Silvestertag bringt sie Blumen mit, egal ob die Sonne durch die kahlen Bäume scheint oder der Bogenhausener Friedhof im Schnee versinkt.

Ein später, schöner Oktobertag: Auf dem Isarhochufer fühlt man sich weit entfernt von den Verkehrsschneisen der Großstadt. Schmitz steht am Eingang vor der alten Dorfkirche. Um sie herum hat sich eine Gruppe von literaturbegeisterten Besuchern versammelt, die den Club der toten Dichter im milden Herbstlicht erleben wollen. 225 Grabstätten gibt es hier, berühmte Namen, die das Privileg haben, im Schatten des barocken Gesamtkunstwerks zu liegen. Nur wenigen Zeitgenossen wird diese hohe Ehre zuteil, meist jenen, die sich um die Kulturstadt München verdient gemacht haben.

Obwohl im Innern der Kirche ein prächtiger Hochaltar von Johann Baptist Straub zu bewundern ist und St. Georg mit kunsthistorisch bedeutenden Kanzeln und Deckengemälden beeindruckt, wirkt der Friedhof beinahe schlicht. Schmiedeeiserne, bemalte Grabkreuze bestimmen das Bild, und anders als etwa auf dem Ostfriedhof mit seinen Mausoleen, Marmorbildnissen und thronenden Engeln müssen sich die Verstorbenen hier mit bescheidenen Steinen begnügen - für monumentalen Totenkult ist auf dem alten Dorffriedhof von Bogenhausen kein Platz.

Die Führung beginnt am Grab von Liesl Karlstadt, die im Dezember 1892 als Elisabeth Wellano in Schwabing geboren wurde. Auf dem Kreuz leuchtet ein rotes Herz, das beim Aufklappen den Geburtsnamen der Künstlerin offenbart - ein hübscher Effekt, den nur Eingeweihte kennen.

Unterm Arm hält Schmitz ihren dicken Ordner mit den literarischen Texten, aus denen sie ausgiebig zitieren wird: Neben der schwierigen Beziehung zwischen dem herrschsüchtigen Karl Valentin und seiner genialen Bühnenpartnerin erinnert sie auch an das tragische Ende des Humoristen, der nach dem Zweiten Weltkrieg vergeblich sein Glück versuchte - vergessen vom Publikum, dahingerafft von einer Lungenentzündung nach einer eiskalten Nacht eingesperrt in einer Theatergarderobe.

Von diesen Erzählungen aufgewühlt, muss man es wohl bedauern, dass Valentin nicht neben Karlstadt und all den anderen Münchner Berühmtheiten ruht, sondern auf dem Waldfriedhof Planegg.

Nur ein paar Schritte sind es bis zum Grab von Rainer Werner Fassbinder, der erst nach erbitterten, höchst emotionalen Auseinandersetzungen hier beigesetzt werden konnte. Dass ein drogenkranker, schwuler Regisseur in der Nähe des heiligen Georg seine Ruhe fand, war 1982 längst nicht selbstverständlich. Heute liegen viele kleine Steine auf seinem Grabstein, "oft hinterlassen seine Verehrer auch Rosen", sagt Schmitz. Sie trägt einen Auszug aus einem frühen Theaterstück vor, einen ungekünstelten, fast brutalen Dialog aus "Katzelmacher", mit dem Fassbinder die alltägliche Fremdenfeindlichkeit entlarvte.

Kurioserweise ist der große Regisseur letztlich im bürgerlichen München angekommen, nämlich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Weißbierkönig Georg Schneider oder zum ehrenwerten Astronomen Johann von Lamont, dem von König Ludwig II. geadelten Leiter der Sternwarte Bogenhausen. Außerdem liegt Fassbinder auch bei seinen Regiekollegen Hans Lietzau, Hans Schweikart oder Rudolf Noelte, der für akribische Strenge seinen Schauspielern gegenüber bekannt war.

Links neben der Kirche dürfen die Besucher schon wieder in Ehrfurcht verharren. Zunächst am Grab von Oskar Maria Graf, dessen literarische Leistung ebenso wie seine Vorliebe für Kartoffelsuppe mit allgemeinem Kopfnicken bestätigt wird.

Auch der in Berg geborene und im fernen New York gestorbene Schriftsteller zählt zu jenen, die sich nach NS-Regime und Emigration von den Münchnern herzlich wenig geliebt fühlten, bis sie irgendwann in die Klassikerabteilung wanderten. Nach eindringlichen Lesetipps ("Das Leben meiner Mutter") raschelt man weiter im Herbstlaub zu Walter Sedlmayr, der ebenfalls an der Mauer über der Isar ruht. Ein paar letzte Sonnenstrahlen bringen die Kreuze zum Leuchten, während die Führerin einen weiteren höchst dramatischen Todesfall referiert: den Mord am beliebten Volksschauspieler und Nockherberg-Helden, dem sein Doppelleben zum Verhängnis wurde.

Man muss Geduld mitbringen auf dem Bogenhausener Friedhof, um all die anderen bekannten Münchner zu würdigen. Der Karikaturist Ernst Hürlimann, der Dirigent Hans Knappertsbusch, der Publizist Wilhelm Hausenstein, der einstige SZ-Chefredakteur Hermann Proebst, der kunstsinnige Bauunternehmer Josef Schörghuber oder die Schriftstellerin Annette Kolb, sie alle sind hier beisammen. Glücklicherweise kennt Schmitz selbst die hintersten Urnengräber, die halb von Blättern verdeckt sind. Und so können die älteren Besucher in Erinnerungen an den eleganten Peps Valenci schwelgen, Generationen von Münchnern als Tanz- und Benimmlehrer vertraut.

Wer einmal die Runde absolviert hat, gelangt auf der Eingangsseite zu einem weiteren Original, die Kerzen für die Andacht stehen schon bereit. Der Schauspieler Helmut Fischer wird in den kommenden Tagen einigen Besuch bekommen, denn er hätte am 15. November seinen 80. Geburtstag gefeiert, und seine Freunde haben ihn nicht vergessen. Das Bayerische Fernsehen wird dem "Monaco Franze" zu Ehren die legendäre Dietl-Serie und andere Höhepunkte wie den "Millionenbauer" wiederholen. Während der Dreharbeiten zum Millionenbauer muss es übrigens richtig geknallt haben zwischen ihm und dem Kollegen Sedlmayr - "er war ein Satan", lautete Fischers Urteil. Jetzt sind sie räumlich nur durch den Kirchturm von St. Georg getrennt.

Zuletzt darf man noch bei Erich Kästner stehen bleiben, dem gebürtigen Dresdner und bekennenden Herbstspaziergänger, der als Kenner der menschlichen Schwächen auf "Narr" schon mal "Bronchialkatarrh" reimte. Die Zuhörer freuen sich über die "Sachliche Romanze" - ein letztes Gedicht, bevor es dunkel wird. Von der Musikschule nebenan hört man Fetzen von Klavierstücken. "Wenn es Ihnen schlecht geht, lesen Sie die ,Lyrische Hausapotheke'!", gibt Schmitz ihren Besuchern mit auf den Nachhauseweg. Die roten Tulpen bringt sie das nächste Mal mit. Wenn sie ganz alleine hier ist, allein mit ihren Dichtern.

Führungen auf dem Bogenhausener Friedhof veranstaltet "Blickwinkel Kulturvermittlung", Telefon 4488187.

© SZ vom 31.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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