Boazn-Gschichten:Stille Nacht

Hier will sich niemand mit ausgeklügelten Spotify-Playlists überbieten: In der Boazn hört man öfter auch Stille

Von Cathrin Schmiegel

Plötzlich spielt jemand Santana. Ein Künstler, der gar nicht passt in dem Moment. Zu dem Titel, der davor in der Giesinger Boazn mit den Mosaiktischen und vergilbten Lampenschirmen gelaufen ist: Delilah, von Tom Jones. Der Wechsel irritiert mich. Die anderen am Tresen - außer mir drei Herren mit grauem Haar - starren weiter auf ihre Weißbiergläser. Den "Forward"-Knopf der alten Stereoanlage hat die ungarische Wirtin gedrückt, während sie nebenher ein Helles zapft. Ohne hinzusehen.

Kassette

Foto: imago

In einer Boazn wie dieser kümmert es niemanden, dass alles unfertig ist und nichts perfekt. Während Menschen mit Dr-Dre-Kopfhörern vor den dreckigen Fenstern vorbeilaufen, bin ich drinnen herrlich entspannt. Hier will sich niemand mit ausgeklügelten Spotify-Playlists überbieten. Ich lehne mich zu meinem Nachbarn mit dem verblassten Poloshirt hinüber und frage, wie das Lied heißt, das er gerade summt. Er zuckt mit den Schultern.

Viel öfter als Trash-Musik höre ich aber in der Boazn das, was ich am meisten mit ihr verbinde: Stille. Immer dann, wenn die Wirtin die Musik wechseln will. Und wenn sie zwei, drei, vier oder fünf Minuten braucht und die Männer wieder auf ihr Weißbier starren. Einen Schluck nehmen. Und wieder starren. Dann wird die Stille kurz unangenehm, und ich muss sie ertragen.

Ich erinnere mich an meine halbgaren Mixtapes, die ich mit elf aus dem Radio aufgenommen habe: mit Christina Aguilera und den Toten Hosen, aber niemals ganze Titel und Stille, weil ich beim Radio mal wieder zu spät oder zu früh auf "Play" und "Record" gedrückt habe. Wirklich schlimm war das nicht. Immerhin hatte ich ihn eingefangen: einen kurzen, schrägen Moment. So wie es ihn heute nur noch in der Boazn gibt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: