Literatur:Der Tag, an dem die Wut zuschlägt

Literatur: Der Münchner Schriftsteller und Regisseur Björn Bicker, hier auf einer Treppe am Friedensengel.

Der Münchner Schriftsteller und Regisseur Björn Bicker, hier auf einer Treppe am Friedensengel.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Björn Bicker erzählt von Momenten, in denen Welten, Fassaden, Menschen zusammenbrechen. Der Schriftsteller stellt sein neues Buch "Aminas Lächeln" in mehreren Lesungen vor.

Von Antje Weber

Vielleicht sollte man mit einem Detail beginnen. Mit dem Kopftuch, das der jungen Muslima Amina ständig verrutscht, als sie auf der Polizeiwache verhört wird, denn die zum Befestigen nötigen Nadeln hat man ihr weggenommen und nicht wiedergegeben. Auch solche scheinbaren Nebensächlichkeiten sind wichtig in den Erzählungen von Björn Bicker, nicht nur in der Titelgeschichte "Aminas Lächeln". Wie gehen wir miteinander um, ist eine der großen Fragen. Ist die Würde mancher Menschen antastbarer als die anderer? Und was macht es mit einer jungen Frau, wenn sie sich immer wieder unterschwelligem oder offenem Rassismus ausgesetzt fühlt?

Vielleicht verdichten sich ihre unterdrückten Gefühle irgendwann zu einer großen Wut. So dass diese Frau, die in München-Milbertshofen lebt und Boxkurse gibt, eines Tages in der U-Bahn ausrastet und einen Mann zusammenschlägt. Der hat sie schließlich angespuckt. Oder hat er doch nicht? Es gibt keine einfachen Antworten bei Björn Bicker, dafür sind die Gemengelagen in seinen Erzählungen zu komplex, die Perspektiven zu unterschiedlich.

Da ist die Ich-Perspektive einer lesbischen Psychotherapeutin, der die Partnerin und Kinder entgleiten. Da ist der Roma-Junge, dessen Familie nach der Abschiebung aus Deutschland in den Kosovo nur Gewalt erfahren hat. Da ist die Pfarrerin, die sich vom Schicksal einer ehemaligen Prostituierten und ihrer behinderten Tochter berühren lässt. Und da ist der mittelalte, weiße Mann, der sich nicht nur als Schauspieler fragt: Wer darf welche Geschichte erzählen?

Björn Bicker jedenfalls ist geübt darin, andere Perspektiven einzunehmen. Wie unsere von vielen Kulturen und Religionen und unterschiedlichem Wohlstand geprägte Gesellschaft funktionieren könnte, wie mehr wirkliche Begegnung insbesondere in Städten möglich ist, beschäftigt den Münchner Schriftsteller, Regisseur, Projektentwickler und neuerdings Hochschulprofessor schon seit langem. Als Dramaturg an den Münchner Kammerspielen entwickelte er schon vor zwanzig Jahren weithin ausstrahlende Stadtprojekte wie "Bunnyhill" oder "Illegal". Für ein Theaterstück wie "Deportation Cast" erhielt er 2012 den Deutschen Jugendtheaterpreis, für den vielstimmigen Chor "Was glaubt ihr denn. Urban Prayers" 2016 den Tukan-Preis der Stadt München. Und sein neuer Erzählband "Aminas Lächeln" (Kunstmann Verlag) wurde sowohl von der Stadt als auch dem Freistaat Bayern mit Arbeitsstipendien gefördert.

Herzneurosen und andere Attacken

Es sind keine leisen Erzählungen geworden, im Gegenteil. Hier prallen nicht nur Welten aufeinander, hier knallt es auch immer wieder heftig. In fast jeder Geschichte eskaliert, was sich zuvor unterschwellig entwickelt hat; Unfälle, Attacken, Zusammenbrüche sind die Folgen. Die lesbische Familienmutter etwa tickt irgendwann ebenso aus wie die junge Amina. Ein Jurist und Jugendgruppenleiter bekommt eine "Herzneurose", als er bei einem Ausflug auf der Isar Schlauchboot fahren soll; Erinnerungen aus seiner Kindheit, Fluchterfahrungen kommen hoch. Und eine engagierte Lehrerin mit türkischem Hintergrund gerät nicht nur angesichts des deutschen Schulsystems an ihre Grenzen. Erwartbar verlaufen diese Geschichten jedenfalls nie. Und ob durch akute Traumata oder Retraumatisierungen, immer kommen die Figuren sich selbst auf irgendeine Weise abhanden.

Was da hilft? Kleine und große Gesten der Menschlichkeit und Zuneigung, so könnte man aus den Geschichten schließen. Vielleicht auch das Schreiben selbst, dessen Bedeutung im Buch einmal so formuliert wird: "Schreiben, damit jemand nicht verschwindet." Schreiben, um vielleicht gar zu heilen? "Ach, echt, ich weiß nicht, Heilung ist auch so eine überschätzte Kategorie", lässt Bicker jedoch eingangs eine Therapeutin in einer Beratungsstelle für Suchtkranke sagen. "Wir heilen hier sowieso niemanden. Oder, Ingo?" Der Kollege antwortet: "Vielleicht uns selbst." Es ist ein Anfang.

Björn Bicker: Aminas Lächeln, Lesungen: Montag, 27. Februar, 19 Uhr, Literaturhaus, Salvatorplatz, literaturhaus-muenchen.de; Donnerstag, 30. März, 19.30 Uhr, Buchhandlung Rauch & König, Herzogstr. 84, rauchundkoenig.buchhandlung.de

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