Bildung:Eine Schule, die es eigentlich nicht geben dürfte

In der Christophorus-Einrichtung finden Kinder und Jugendliche mit seelischen Problemen und in Krisen Halt. Sie bietet Platz für 200 junge Menschen, die sonst keiner haben will - und die Wartelisten sind lang

Von Hannah Schuster

Ich würde Bugatti fahren und Hitler töten", sagt Gürkan. Es ist Mittwochvormittag, die Uhr an der Wand zeigt 10.30 Uhr. Für die sieben Buben im Alter von elf bis vierzehn Jahren ist es die dritte Schulstunde, Ethik steht nun auf dem Stundenplan. Auf der Tafel steht in bunten Kreidebuchstaben das Wort "Hausaufgabe", an der Wand hängen Smileys in Ampelfarben. Die Schüler haben die Tische gemeinsam mit ihrer Lehrerin Johanna Lang zu einem Kreis zusammengeschoben. Nacheinander beantwortet jeder die Frage, was er an einem Tag machen würde, an dem keine Regeln gelten. Ein anderer Schüler würde König werden und dann Trump zur Geisel nehmen. "Und was machen Sie, Frau Lang?", fragen die Schüler und kichern. "Ich würde wohl einfach mal nichts tun", sagt die 32-Jährige. Langweilig sei das, lautet das einstimmige Urteil.

Gürkan und seine Klassenkameraden haben Spaß im Unterricht - vor zwei Jahren wäre das für den 14-jährigen Gürkan nicht möglich gewesen. Als er auf die Christophorus-Schule an der Leibengerstraße wechselte, verbrachte er die ersten Wochen alleine in einem Nebenraum. "Am Anfang habe ich mich geschüchtert", erzählt er. An einer regulären Schule wäre so ein Verhalten wohl nicht geduldet worden, an der Schule des Christophorus-Schulvereins hingegen ist man auf so etwas vorbereitet. Die Schule nimmt Kinder und Jugendliche auf, die seelisch behindert sind oder soziale Schwierigkeiten haben und deshalb an Regelschulen Probleme haben. Manche Schüler waren bereits an sechs verschiedenen Schulen, bevor sie an die Christophorus-Schule kamen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Manche Kinder sind traumatisiert, haben Eltern mit Alkohol- oder Drogenproblemen oder werden durch Krisen aus der Bahn geworfen. "Diese Kinder bereiten dann an den Schulen auch Probleme", sagt der Schulleiter Bernd Hügel, "die will keiner mehr haben".

Bildung: Referendarin Anna-Lena Koch.

Referendarin Anna-Lena Koch.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Wenn ein Schüler laut wird, vielleicht sogar um sich tritt; dann, so weiß Bernd Hügel, ist der Grundimpuls eines Menschen wegzugehen: "Wir laufen aber genau dahin, wo es kracht und weh tut". Auch Gabriela von Westerholt weiß, wie wichtig das ist. Sie ist Vorstandsmitglied des hinter der Schule stehenden Christophorus-Schulvereins und engagiert sich seit 30 Jahren für den Verein und die Kinder. "Die Kinder spüren, dass wir für sie da sind und wir sie für wichtig halten und immer wieder auf sie zugehen", sagt sie. Schließlich sollen auch diese Kinder und Jugendlichen einen Schulabschluss machen, einen Beruf erlernen und ein selbstbestimmtes Leben führen. "Wenn jemand gruppenfähig ist, dann ist er geheilt", so Bernd Hügel. Dazu gehört auch, dass die Kinder Höflichkeitsregeln lernen, den Umgang mit anderen Menschen - grundsätzliche Fähigkeiten, die sie bis dahin aber nicht einhalten konnten.

Das ist ein Prozess, der weder für die Kinder noch für die Lehrer und die Schule einfach ist. "Letztes Jahr war's total scheiße", sagt Gürkan. Er war schüchtern und kam mit der Einstellung, "dass es eh nichts nützt". Dementsprechend war auch die Anfangszeit an der Christophorus-Schule schwer. Kindern wie Gürkan wird über Jahre signalisiert, dass sie und ihr Verhalten nicht gut ankommen, erklären Schulleiter Hügel und Gabriela von Westerholt. Sie werden abgelehnt, sodass sich bei ihnen die Einstellung verfestigt, dass sie nichts wert seien. Die positive Zuwendung, die sie dann an der Christophorus-Schule bekommen, bedeutet erst einmal Stress, dem sie durch ihr Verhalten ausweichen wollen. "Aber irgendwann programmiert das Hirn sich dann um", sagt Bernd Hügel.

Bildung: Die Schüler gewinnen Vertrauen und Selbstbewusstsein. Schließlich sollen diese auch einmal einen Beruf haben und ein selbstbestimmtes Leben.

Die Schüler gewinnen Vertrauen und Selbstbewusstsein. Schließlich sollen diese auch einmal einen Beruf haben und ein selbstbestimmtes Leben.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Kinder verbringen den ganzen Tag auf dem Schulgelände: Vormittags haben sie Unterricht, nachmittags besuchen sie die angegliederte heilpädagogische Tagesstätte. Die Schule und die Nachmittagsbetreuung arbeiten eng zusammen, um eine einheitliche Struktur vorzugeben. "Hier kann man nicht verschwinden", sagt Bernd Hügel. Auf Gürkan und dessen Entwicklung ist er stolz: "Er hat hier sein Label verloren, er hat erlebt, dass er auch was Gutes machen kann", sagt Hügel. Gürkan selbst sagt, dass seine Lehrerin Johanna Lang die größte Hilfe war. Durch sie hat er Vertrauen gefasst, und nach einiger Zeit allein im Nebenraum hat er sich dann auch ins Klassenzimmer zu den anderen gewagt. "Ich finde es jetzt besser" sagt er mit einem Lächeln. "Ich mache alles mit!"

Zu den Besonderheiten gehört es unter anderem, dass sich die Schüler Ziele setzen: Jeden Tag wird dann beurteilt, ob sie sie eingehalten haben oder nicht. Gürkan arbeitet daran, sich zu konzentrieren, nicht dazwischenzureden und sich und andere nicht abzulenken. Das fällt ihm nicht immer leicht, aber "am Ende, wenn der Tag vorbei ist, denkt man sich schon, habe ich gut gemacht", sagt er. Wenn ihre Schüler solche Erfolgserlebnisse haben, dann ist es auch ein Erfolg für die Lehrer. Hügel zeigen auch diese kleinen Schritte, "dass man seine Energie richtig investiert hat".

Bildung: Wenn ihre Schüler Erfolgserlebnisse haben, dann ist es auch ihr Erfolg.

Wenn ihre Schüler Erfolgserlebnisse haben, dann ist es auch ihr Erfolg.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Arbeit mit den Schülern ist fordernd: Gürkans Lehrerin Johanna Lang dachte sich nach ihren ersten vier Stunden an der Schule, dass sie das niemals durchhalten würde - inzwischen ist sie seit drei Jahren dort. "Man merkt spätestens nach einer Woche, ob man es aushalten kann oder nicht", stellt sie fest, "aber wir sind letztlich da, um jemandem zu helfen; und das ist eine schöne Aufgabe!". Trotzdem wünscht sich Schulleiter Bernd Hügel, dass "es uns eigentlich gar nicht gibt". Lieber wären ihm Zwischenschritte an den normalen Schulen, so dass Kinder, die aus dem System fallen, auch dort die Unterstützung bekommen, die sie brauchen.

Insgesamt besuchen etwa 200 Kinder und Jugendliche die Christophorus-Schule, doch die Warteliste ist lang. Es gibt nicht viele Schulen mit einem vergleichbaren Konzept, dabei ist der Bedarf groß. "Wir platzen aus allen Nähten", sagt Hügel. Die Schule wurde 1983 gebaut und ist inzwischen zu klein. Außerdem hat die Schule mit ihrer Außenwirkung zu kämpfen, meint Gabriela von Westerholt: "Dabei gehören wir genauso dazu wie jeder andere Schulzweig und sind keine Halde, wo man schwierige Kinder ablädt."

Bildung: Lehrerin Johanna Lang.

Lehrerin Johanna Lang.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Die meisten Kinder an der Christophorus-Schule sind im Grundschulalter, danach gibt es "einen großen Cut", erklärt Hügel. Wenn ein Kind dann nämlich auf eine Regelschule wechselt, haben sie ihr Ziel erreicht: Die Kinder können sich auch an einer normalen Realschule oder am Gymnasium zurechtfinden. "Sie brauchen die Auszeit hier, um sich zu stabilisieren", meint Bernd Hügel. In den meisten Fällen ist die Schule erfolgreich, nur in etwa zwei Fällen pro Jahr "sind auch wir mit unserem Latein am Ende".

Gürkan, dem es vor zwei Jahren schwerfiel, überhaupt ein Schulgebäude zu betreten, hat nun eine ganz andere Sicht auf die Schule. Im Ethik-Unterricht überlegen sich die Kinder nämlich nicht nur, was sie ohne Regeln machen würden, sondern auch, welche Regeln es gibt und welche die wichtigste Regel für sie ist: "Nicht die Schule schwänzen", sagt Gürkan. So ähnlich formulieren es auch seine Klassenkameraden. "Schule ist das Einzige, was dir helfen kann", sagt einer von ihnen, "Schule ist einfach dein Leben".

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: