Süddeutsche Zeitung

Bildband:Um Himmels willen

Henning Stegmüller erzählt anhand von Votivtafeln Geschichte ausgehend vom 17. Jahrhundert. Viel geht es um Seuchen - passend zu Pandemie-Zeiten. In einem Buch ergänzt er die alten Bilder durch Texte und Fotos heutiger Landschaften

Von Sabine Reithmeier

Votivtafeln erzählen von Krankheiten und Unfällen, von wundersamen Heilungen und Rettungen aus scheinbar ausweglosen Situationen. Sie dokumentieren leise, aber nachdrücklich menschliche Hilfsbedürftigkeit, hängen meist an Orten, an denen Gott anscheinend besonders geneigt ist, die Bitten der Gläubigen zu erfüllen. Einer der Orte ist die Gnadenkapelle Maria Elend, eine kleine, achteckige Wallfahrtskirche in der Nähe von Dietramszell, einer Gemeinde im Süden von München. Mehr als 160 Votivtafeln, die älteste von 1605, berichten dort von den Ängsten der Menschen und den Gefahren in ihrem Alltag, aber auch von ihrer Hoffnung und dem Vertrauen in höhere Mächte.

Henning Stegmüller, der in Dietramszell wohnt und oft zur Kirche spaziert, faszinieren die Bildergeschichten. Der Filmemacher und Fotograf, Jahrgang 1951, hat schon vor Jahren in Indien über "Memorial Stones" gearbeitet und ist überzeugt davon, dass Erinnerungsmale aus der Volkskunst den Blick auf die Lebensrealität der Menschen in früheren Zeiten öffnen. Er bot dem Pfarrer an, die Tafeln fotografisch zu dokumentieren. "Da ging es mir vorrangig darum, ihren Erhalt zu sichern", sagt Stegmüller. Konservatorische Maßnahmen habe es für die Tafeln bislang nicht gegeben.

Doch nachdem er für Pfarramt und Gemeindearchiv alles abgelichtet hatte, blieb in ihm das Gefühl zurück, das genüge noch nicht. "Mich hat begeistert, was auf den nachgedunkelten und im Dunkel hängenden Votivbildern plötzlich durch die Bearbeitung zu erkennen war. Wie wenn plötzlich ein Licht angeht", sagt er. Daher entschied er, mit den Bildern, die so vieles erzählen, ein Buch zu gestalten und den Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) als Ausgangspunkt seiner ikonografischen Erzählung zu wählen, einer Zeit, die durch nie dagewesene Gewalt geprägt war. "Was die vielen Kriegsherren nicht besorgt hatten, erledigten die Pestepidemien", schreibt er in der Einführung zur "Verborgenen Zeit", so der Titel seines eben erschienenen, außergewöhnlichen Buches.

Als das Coronavirus auftauchte, spürte er schon längst Seuchen und anderen Katastrophen dieser Zeit nach. Um zu vertiefen, was die Votivtafeln ausdrücken, suchte er nach Texten, entdeckte Gottfried Lammerts "Geschichte der Seuchen, Hungers- und Kriegsnot zur Zeit des dreissigjährigen Krieges", erschienen in Wiesbaden 1890. In dieser Chronik der Heimsuchungen verfolgt der königliche Bezirksarzt und Heimatforscher die Verbreitung der Pest im Jahr 1634. In Oberbayern tobte sie von April an so heftig, dass man in Irschenberg die Namen der Opfer gar nicht mehr aufschrieb. Ähnlich in Bad Tölz, wo die Pfarrbücher von Juli an keine Einträge mehr enthalten. "Bald überraschte sie Königsdorf, entvölkerte das Dorf Wackersreuth nach der Sage bis auf 5 Familien, ebenso Beuerberg an der Loisach, und fand noch im gleichen Monat trotz aller Vorsichtssmassregeln Eingang im Bezirke Wolfratshausen", schreibt Lammert. Das kommt einem irgendwie alles sehr bekannt vor.

Poetischer, aber nicht minder erschütternd erzählt der Schriftsteller Michael Köhlmeier von der "Pest in Bichl" (aus "Die Märchen", 2019). Die Pest ist ein hochgewachsener Mann. "Er trägt schwarze Kleidung, die flattert ihm in Fetzen am Leib." Drei Pfeile genügen, um die Seuche zu verbreiten. Nach jedem Treffer zieht die Pest den Pfeil aus dem Körper des Getroffenen, verwendet ihn wieder, die Ansteckung ist garantiert.

Stegmüller hat auch Texte von Gerd Holzheimer, Andreas Gryphius oder John Berger zu den Bildern ausgewählt. Zudem hat er Landschaften fotografiert, die er den Votivtafeln dialogisch gegenüberstellt. Seltsam entrückte, leicht unscharfe Aufnahmen, sich schlängelnde Wege, alte Höfe, Pestsäulen, auch Menschen bei Wallfahrten und Prozessionen. Eine Tafel mit pflügendem Bauer findet ihr Pendant in einer stillen, archaisch wirkenden Winterlandschaft aus dem Kirchseemoor. Und die Kuhherde, die unter dem Gnadenbild weidet - der Stifter wollte wohl eine Tierseuche abwehren - kontrastiert er mit dem Foto von Kühen in einer Scheune, über der sich eine schwarzblaue Gewitterwand ballt.

Votivbilder sind meist streng schematisch aufgebaut. In der oberen Bildhälfte schwebt meist das Gnadenbild des Wallfahrtsorts, das in Maria Elend zweigeteilt ist: Links sitzt nachdenkend der gegeißelte Heiland, durch die Geißelsäule getrennt von der schmerzhaften Mutter Maria. In der unteren Hälfte erfährt man den Anlass der Darbringung. Oft handelt es sich um einen Unfall wie in der Votivtafel von Joseph Schlickenrieder. Ihm gelang es 1831, seine zwei sieben und zehn Jahre alten ins Eis eingebrochenen Töchter zu retten. Der Vater sprang ihnen nach, "allein das Eis brach immer nach, und mit größter Mühe" kamen sie alle drei wieder heraus. Den Bittstellern ging es meistens um irdische Nöte, selten ums Jenseits. Manche begnügten sich mit der gemalten Darstellung, andere ergänzten sie wortreich mit Texten, dritte beschränken sich auf die Formel "Ex voto" (aufgrund eines Gelübdes). Bisweilen weiß man nicht einmal, ob die Stifter danken oder bitten. Und doch berühren diese Erinnerungszeugen einer tiefen Frömmigkeit, gerade in Pandemie-Zeiten. "Ein geradezu unheimlicher Zufall, der das Buch selbst zu einer Art Fürbitte macht", findet Stegmüller.

Menschen stiften auch heute noch Votivbilder, um sich zu bedanken. Eines der jüngsten stammt aus dem Jahr 1992. "Vorbei ist nun der Herzinfarkt, ich geh' schon wieder auf den Markt / kauf' Eier, Käse, frische Butter / das dank' ich Dir, Du Gottesmutter."

Henning Stegmüller: "Verborgene Zeit", Kunstverlag Josef Fink, 96 Seiten, 80 Abbildungen, Preis 19,80 Euro

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SZ vom 13.01.2021
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