Installation in den Münchner KammerspielenEine „Bibliothek der Schicksale“ erinnert an die Nazi-Verbrechen

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Die ehemalige Telefonzelle des Foyers der Kammerspiele führt einen direkt zur Recherche über 350 Schicksale von durch die Nazis verfolgten Mitarbeitern.
Die ehemalige Telefonzelle des Foyers der Kammerspiele führt einen direkt zur Recherche über 350 Schicksale von durch die Nazis verfolgten Mitarbeitern. (Foto: Nikolai Kuchin)

Eine Installation am Eingang der Kammerspiele erinnert an die von Nazis verfolgten und ermordeten Mitarbeiter des Hauses. Wie es zu diesem Projekt kam.

Von Oliver Hochkeppel

Neben der Gedenktafel am Eingang der Münchner Kammerspiele erinnert nun auch eine Installation an die vielen, während der NS-Zeit verfemten, verfolgten, vertriebenen und ermordeten Mitarbeiter des Hauses. In der ehemaligen Telefonzelle des Foyers, in der zuletzt Putzsachen lagerten, ist die „Bibliothek der Schicksale“ eingerichtet worden, mit mehr als 170 Bio- und Autobiografien, Bildbänden, Theatertexten und Druckschriften, die Janne und Klaus Weinzierl bei ihren Recherchen sammelten.

Seit 2018 haben die Weinzierls die Geschichte des traditionsreichen Theatertempels vor und während der NS-Zeit detailliert zusammengesetzt und dadurch mehr als 350 Schicksale von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kammerspiele dem Vergessen entrissen, die der Verfolgung durch die Nazis durch Flucht entkamen, sich aus Verzweiflung das Leben nahmen oder ermordet wurden.

Wie bei vielen ähnlichen Institutionen hat eine eingehende Aufarbeitung dieser eigenen Geschichte auch an den Kammerspielen sehr spät eingesetzt. Verbunden ist sie hier nicht nur mit den Weinzierls, sondern auch mit dem Namen Martin Valdés-Stauber.

Als der Kaufbeurer 2017 als Dramaturg im künstlerischen Leitungsteam der Kammerspiele anfing, wunderte er sich über den unreflektierten Umgang mit der eigenen Geschichte an einem Haus, das sich explizit gegen Rassismus und Antisemitismus einsetzt. Vielleicht fiel es ihm auch deshalb so auf, weil Valdés-Stauber vor seiner Theaterkarriere in München, Friedrichshafen, Berkeley und Cambridge Soziologie und Wirtschaftswissenschaften studiert und so über den Tellerrand hinauszublicken gelernt hatte.

Ein glücklicher Zufall wollte es, dass er gleich Anfang 2018 Janne und Klaus Weinzierl bei der Verlegung eines Stolpersteins für den ehemaligen Kammerspiel-Direktor Benno Bing kennenlernte. Die beiden pensionierten Englischlehrer engagieren sich seit Langem für die „Stolpersteine“-Aktion und wurden so zu Fachleuten für nationalsozialistische Verfolgung. Mit ihnen hatte Valdés-Stauber seine Chef-Rechercheure gefunden. Zusammen mit Felicitas Friedrich und nach Kräften unterstützt vom damaligen Intendanten Matthias Lilienthal wie von seiner Nachfolgerin Barbara Mundel machten sie sich ans Werk. Mit überwältigendem Ergebnis, wie man unter schicksale.muenchner-kammerspiele.de sehen kann.

Frank Wedekinds Stück „Schloß Wetterstein“ führte zu den ersten massiven rechtsradikalen Protesten

Um diese Arbeit noch sichtbarer zu machen, hatten Mundel und Valdés-Stauber – der inzwischen an der Berliner Schaubühne arbeitet, dem Projekt aber verbunden bleibt – 2023 die Idee der Kunstinstallation in der brachliegenden Telefonzelle des Steinfoyers. Den künstlerischen Entwurf schuf der junge Architekt und Bühnenbildner Nikolai Kuchin, der 2023/2024 an den Kammerspielen engagiert war und jetzt unter anderem für die Kulturhauptstadt Chemnitz arbeitet. Nachdem Denkmalschutz und Brandschutz grünes Licht gegeben hatten, gelang die Umsetzung durch die eigenen Werkstätten jetzt in kürzester Zeit.

Unter den in Licht getauchten Titeln dieser Weinzierlschen Handbibliothek befindet sich zum Beispiel der 1918 im Georg Müller Verlag erschienene Theatertext von Frank Wedekinds „Schloß Wetterstein“ – das 1919 an den Kammerspielen aufgeführte Stück führte zu den ersten massiven rechtsradikalen Protesten.

Den Gedanken, die Schriften in der Telefonzelle tatsächlich zugänglich und lesbar zu machen, verwarf man schnell: „Meine Frau war Bibliothekarin. Sie weiß, dass die Bücher dann verschwinden und nie wiederkommen“, sagt Klaus Weinzierl. Stattdessen kann man an der Installation per QR-Code das komplette, kommentierte Literaturverzeichnis herunterladen. Und wer dann noch tiefer einsteigen will: „Fast alle Titel können im Internet antiquarisch gesucht, gefunden und günstig erworben werden. Das Zentrale Verzeichnis Antiquarischer Bücher ZVAB vermittelt unkompliziert die Angebote seriöser Antiquariate“, erklärt Weinzierl.

Bei der Eröffnung der Installation am Samstag, 10. Mai, um 17 Uhr (vor der hochkarätig besetzten Debatte über den „Wert der Kultur“ im Schauspielhaus) wird Weinzierl ein spannendes Fallbeispiel eines Buches vortragen. Ein Zufallsfund, der die schillernde, in München, Moskau und Ostberlin spielende Geschichte der Familie des 1930 und 1931 an den Kammerspielen inszenierenden Ernst Held (der eigentliche Rosenbaum hieß) erzählt.

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