Seniorenheim am Ammersee:Wie Gertrude Krombholz den Rollator-Tanz erfand

Dießen: Augustinum Rollatortanz mit Gertrude Krombholz

Dießen: Augustinum Rollatortanz mit Gertrude Krombholz Dießen: Augustinum Rollatortanz mit Gertrude Krombholz Foto: Nila Thiel

(Foto: Nila Thiel)

Die Sportwissenschaftlerin ist selbst 82, im Seniorenheim tanzt sie mit noch älteren Damen und Herren - bei gemütlichem Tempo, aber nicht weniger rhythmisch.

Von Gerhard Fischer

Und jetzt ist die Mazurka dran, der polnische Volkstanz. Von rechts gehen acht alte Menschen auf die Tanzfläche, von links schieben acht alte Menschen ihre Rollatoren vor sich her. Dann bilden sie einen Kreis, und Gertrude Krombholz ruft: "In die Hände klatschen." Eine alte Dame mit Rollator antwortet: "Ich kann nur eine Hand heben, sonst falle ich um."

Alle lachen.

Im Seniorenheim Augustinum in Dießen gibt es eine Rollator-Tanzgruppe. Das Durchschnittsalter ist 85. "Wir haben sogar eine 90-Jährige dabei", ruft eine Dame in den Raum und deutet auf eine andere. Die 90-Jährige hebt den Arm und lächelt. An diesem Samstagnachmittag sind 14 Frauen und zwei Männer da. Klar, Frauen gehen generell lieber zum Tanzen. Aber es liegt auch daran, dass im Augustinum wenig Männer leben. "75 Prozent der Bewohner sind Frauen", sagt Gertrude Krombholz, die Leiterin der Gruppe.

Keine Zeit für den Blick über den Ammersee

Die Tanzstunde findet im Wintergarten statt, im achten Stock des Augustinums. Man kann über den Ammersee blicken, rüber nach Herrsching und hinauf auf den Heiligen Berg, wo das Kloster Andechs steht. "Ich wohne im sechsten Stock, wenn ich mich im Bett aufsetze, kann ich Andechs sehen", sagt Gertrude Krombholz, die sich zum Gespräch auf ein Sofa gesetzt hat.

Aber sie hält sich nicht lange mit der Ammersee-Betrachtung auf. Sie ist schnell beim nächsten Thema und sagt, dass sie ein "Bewegungsmensch" sei; dass sie vor Jahren unten im Garten des Augustinums eine 400 Meter lange Langlauf-Loipe gespurt habe; dass sie dieses Hobby aber wieder aufgab, weil sie keine Mitläufer fand.

Gertrude Krombholz, 82, hat ein bewegtes Berufsleben hinter sich - als Gymnasiallehrerin, Sportwissenschaftlerin, Sportlehrerinnen-Ausbilderin, Tanzlehrerin, Rollstuhltanz-Lehrerin, Rollator-Tanzlehrerin. Sie hat das sehr sauber dokumentiert und in Klarsichtfolien gesteckt. Krombholz reicht nacheinander über den Tisch: einen kurzen Lebenslauf; einen langen Lebenslauf, in dem sogar ihr ganzer Name ausgeschrieben ist (Gertrude Anna Elisabeth Margarethe Krombholz); einen Artikel der Technischen Universität München zu ihrem 80. Geburtstag; einen Text zum Pilotprojekt "Tanzen mit Rollator" am Augustinum; zwei Broschüren zum Rollstuhltanz und zum Moriskentanz in München.

Auf Reisen mit dem Sport

Während sie die Papiere herüberreicht, erzählt sie, was in den Papieren steht. Sie redet schnell und oft mitten in die Fragen des Gesprächspartners hinein, sie reicht die Unterlagen hastig herüber, ihre Bewegungen sind schnell - würde man Menschen Fernsehsendungen zuordnen, dann wäre es bei ihr "Dalli Dalli".

"Am laufenden Band" würde aber auch passen: Einige Tage nach dem Treffen im Augustinum kommt mit der Post auch noch ihre Dissertation. Außerdem schickt sie ein paar Sachen per Mail. Man findet darin weitere Informationen. Und Fotos. Man sieht Gertrude Krombholz auf einem Bild, wie sie mit einem Rollstuhlfahrer tanzt. Unter dem Bild steht: Workshop in São Paulo/Brasilien. 1998.

"Ich war in 54 Ländern und habe wunderbare Menschen getroffen", sagt sie. "Ich hatte ein wunderschönes Berufsleben."

Sportlich durch erbliche Vorbelastung

Dießen: Augustinum Rollatortanz mit Gertrude Krombholz

"In die Hände klatschen", ruft Gertrude Krombholz.

(Foto: Nila Thiel)

Gertrude Krombholz ist im Juli 1933 in Nordböhmen geboren. Die Mutter war sehr sportlich. In einem der Papiere, die sie herübergereicht hat, steht: "Gleichsam erblich belastet, war es daher nicht überraschend, dass ich schon mit zweieinhalb Jahren im Riesengebirge auf extra angefertigten Skiern stand."

Krombholz studierte, wurde Lehrerin für Sport, Geografie und Chemie und wurde 1962 als Dozentin an die Bayerische Sportakademie nach Grünwald gerufen. 1963 bis 1973 war sie dort Leiterin der Sportphilologinnen-Ausbildung. "Ich wurde mit 30 Jahren Leiterin, das war schon außergewöhnlich", sagt sie. Krombholz war Allrounderin, unterrichtete Leichtathletik, Skifahren und Schwimmen.

Noch eine Ausbildung, noch ein Studium

"Olympia 1972 in München krempelte dann alles um", sagt Gertrude Krombholz. Sie erzählt von Standortwechseln und neuen Professoren-Stellen. Aber was für Gertrude Krombholz, die Leiterin der Sportlehrerinnen-Ausbildung, besonders wichtig war: Es waren nun Spezialisten gefordert. "Und ich dachte mir, ich müsste was machen, was Männer an Sportinstituten nicht machen", sagt sie. Also hat sie eine Ausbildung zur Tanzlehrerin gemacht, Anfang der Siebzigerjahre in Nürnberg. 1973 war sie dann die einzige ADTV-Tanzlehrerin an einer deutschen Universität. ADTV heißt: Allgemeiner Deutscher Tanzlehrerverband.

Später hat sie dann auch noch Neuere Geschichte studiert. "Ich habe das für meine Dissertation gebraucht", sagt sie. Die Doktorarbeit über den Schulsport von anno dazumal bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hat 3854 Seiten. Mit Anhängen zwar, aber das macht die Sache nicht leichter. "Ich habe sechs Exemplare der Dissertation mit der Schubkarre in die TU gefahren und die Sekretärin hat eine Woche gebraucht, um die Seiten zu kleben", erzählt Krombholz. Später wurden 600 Seiten (mit Anhang) als Buch veröffentlicht.

Man muss schon sehr fleißig sein, um all das zu machen. Und man muss immer offen für Neues sein.

Sie hat das Studium der Zeit angepasst

Als die Beatles in den Sechzigerjahren aufkamen und die jungen Leute in die Diskotheken rannten, dachte sich Krombholz, man müsse auch die Ausbildung der Sportlehrerinnen moderner machen. Mit Jazz zum Beispiel. "Und ich dachte, ich muss nach Amerika, da ist der Jazz zu Hause." Also ging sie für zwei Monate nach New York. 1000 Mark gab es als staatlichen Zuschuss, 5000 Mark hat "Vater Krombholz übernommen". Als sie wieder in München war, bot sie an der TU Jazztanz an. "Moderne Tanzformen, in Klammern Jazz, ist korrekt", sagt sie. Es ist ihr wichtig, dass sie alles korrekt erzählt. Ungenauigkeiten mag sie nicht.

Zurück zum Jazztanz. "Im ersten Semester kamen noch 30 Studierende, im zweiten waren es schon mehr als 100", erzählt sie. Und irgendwann waren es 300. "Ich war ein Magnet", sagt Gertrude Krombholz. Bescheiden ist sie nicht. Dann steht sie vom Sofa auf, tanzt ausladend, wirft die Hände hoch, trippelt mit den Füßen.

Genauso schnell, wie sie aufgestanden ist, setzt sie sich wieder hin. Redet rasch weiter, versucht, Anweisungen zu geben. Sie will unbedingt, dass ihre Moriskentänzer erwähnt und fotografiert werden. Die Morisken-Tanzgruppe der TU München, die, natürlich, von ihr gegründet worden ist, wird in diesen Tagen 40 Jahre alt. "Die Moriska war ursprünglich ein maurischer Tanz mit vielen Kapriolen und seltsamen Luftsprüngen", steht in einem der Krombholz-Papiere. "Von Nordafrika breitete sich diese Tanzart im 15. Jahrhundert über Südwesteuropa auch nach Deutschland aus." Wer heute an Morisken denkt, sieht auch die historischen Gewänder der Tänzer vor sich.

Im Mittelpunkt steht Krombholz gern

Dießen: Augustinum Rollatortanz mit Gertrude Krombholz

Es geht sehr spaßig zu bei der Rollator-Tanzgruppe - zudem profitieren die Senioren von der Bewegung.

(Foto: Nila Thiel)

Die Morisken-Tanzgruppe tritt beim Münchner Stadtgründungsfest oder beim Wiesn-Umzug auf, in 40 Jahren kamen etwa 500 Aufführungen zusammen, auch im Ausland. "Wir haben es bis nach Drottningholm geschafft", sagt Krombholz. Hinter das "geschafft" muss man sich ein Ausrufezeichen denken. Drottningholm ist das Schloss der königlichen Familie in Schweden, Gertrude Krombholz hatte auch dorthin Kontakte - zu Königin Silvia.

Mit Silvia, die damals noch Sommerlath hieß, hatte Krombholz 1972 bei den Olympischen Spielen in München zusammengearbeitet. Silvia war keine Hostess, wie es oft heißt, das betont Krombholz, denn es müsse schon "historisch richtig sein". Korrekt halt. Silvia Sommerlath arbeitete im Referat "Besucherbetreuung und Hostessenwesen" des Olympischen Komitees. Krombholz selbst war Chef-Hostess.

Bei München '72 war sie Chef-Hostess

Chef-Hostess also auch noch. Und was noch? Eine Skilehrer-Ausbildung hat sie gemacht. "Und, ach ja, der Rollstuhl-Tanz" sagt sie, "das ist eine riesige Entwicklung." Da hat sie auch viel angeschoben, wenn man das so sagen darf, unter anderem hat sie 13 Jahre für das Paralympic Committee gearbeitet. In 42 der 54 Länder, die sie bereiste, war sie wegen des Rollstuhl-Tanzes. Etwa in Japan, Argentinien und Malaysia. "Mein Zimmer im Augustinum ist voll mit Mitbringseln aus aller Welt."

Krombholz lebte schon einige Jahre im Augustinum, als sie im Gesellschaftsraum eine Frau beobachtete: "Es lief Musik, sie stand auf und schob ihren Rollator durch die Gegend - fast wie bei einem Tanz." Gertrude Krombholz dachte: "Wenn es Rollstuhl-Tanz gibt, warum nicht auch Rollator-Tanz?"

Mehr als eine Stunde ist vergangen beim Gespräch im Wintergarten, langsam kommen die Rollator-Tanzschüler. Anfangs sind es zwölf Frauen und zwei Männer, später kommen noch ein paar dazu. Sie haben sich hübsch gemacht, viele Frauen tragen Kleider.

Der Mittelpunkt passt ihr gut

Krombholz übernimmt sofort das Kommando, dirigiert hier, verbessert dort, stellt sich in die Mitte, man kann auch sagen: in den Mittelpunkt. Ja, vielleicht muss man so sein wie sie, um diese Karriere hinzulegen, dominant eben. Sie sagt dann: "Einmal hin und einmal her, hin und rück und hin und rück." Rollator-Tänzer und Fußgänger gehen aufeinander zu, drehen sich, reißen die Hände nach oben, manche beide, manche nur eine Hand.

Natürlich ist das nicht schnell, aber einen Rhythmus kann man klar erkennen. "Sie haben schon Fortschritte gemacht in den vier Jahren, seit es die Tanzgruppe gibt", sagt Gertrude Krombholz. Neulich sind sie sogar mal aufgetreten, beim Sportverein in Dießen.

Pause. Die Tänzer reden darüber, wie sehr sie vom Rollator-Tanz profitieren. Zum einen gesundheitlich. Die Haltung wird geschult, und manchmal hilft es auch bei schweren Fällen. Eine Frau hatte einen Schlaganfall, aber mit dem Rollator-Tanz werde es immer besser, sagt sie. "Und vor allem tut es der Psyche gut."

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