Auf der Leinwand sieht man zwei Kurven, die über Jahre hinweg parallel verlaufen. Manchmal berühren sie sich, als gehörten sie zusammen. Eine Kurve zeigt die Höhe der US-Rohölimporte aus Norwegen, die andere die Zahl der Fahrer, die bei Zugkollisionen getötet wurden. Die beiden Statistiken haben nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun - außer ihrem Kurvenverlauf. "Das sind Zufallszusammenhänge", sagt Michael Schmidt.
Excel-Experte Schmidt hält an diesem Abend ein Referat über Datenvisualisierung. Schmidt spricht im Funkstadl in der Arnulfstraße, und in dem kleinen Nebenraum, in dem elf Leute sitzen, haben die Stuhl-Lehnen herzförmige Löcher. An der Wand hängen Teller mit Aufschriften wie "Unser täglich Brot gib uns heute". Die Umgebung passt eher zu einem - Stammtisch. Und es ist auch einer: der erste Excel-Stammtisch Münchens.
René Martin, 53, hat den Stammtisch Anfang 2016 gegründet. Dort treffen sich Menschen, die sich den ganzen Tag mit dem Tabellenkalkulationsprogramm Excel beschäftigen; und die dann abends zusammen kommen, um sich mit dem Tabellenkalkulationsprogramm Excel zu beschäftigen. "Das ist schon ein bisschen schräg", hatte Martin am Telefon vor dem Treffen gesagt - und damit die Erwartung geschürt, man werde im Funkstadl auf blasse, vielleicht etwas aus der Form geratene Nerds treffen, die einem nicht in die Augen sehen, sondern nur in ihre Laptops.
Aber dann kommt eine Stunde vor dem Beginn ein sportlicher, schlanker, gar nicht bleicher Mann angeradelt. René Martin schließt sein Fahrrad ab, grüßt freundlich, setzt sich in den Nebenraum des Restaurants und bestellt etwas Nicht-Alkoholisches. "Ich will einen klaren Kopf behalten", sagt er. Martin sieht sich um. "Ich habe mit dem Funkstadl bewusst den Kontrast gewählt - die Leute, die zum Stammtisch kommen, sitzen den ganzen Tag in irgendwelchen hochklimatisierten High-Tech-Räumen."
Martin stellt seinen Laptop auf den Tisch. "Die meisten haben einen dabei", sagt er. Damit könne man gleich kontrollieren, was der Referent so sage. "Außerdem fragen wir uns gegenseitig nach Lösungen von Excel-Problemen - so spielen wir manchmal um die Wette, wer am schnellsten eine Lösung parat hat."
Während der Laptop hochfährt, erzählt René Martin von einem 23-jährigen Afghanen. Das hat nichts mit dem Stammtisch zu tun. Aber es hat mit Martin zu tun. "Ich betreue seit zwei Jahren einen Asylbewerber", sagt er, "wir lesen, rechnen, schreiben miteinander." Der junge Mann hatte in Afghanistan keine Schule besucht. "Er hatte dort Ziegen gehütet und dem Vater auf dem Bau geholfen", erzählt Martin. "Dann brachten die Taliban seine Eltern um und er ist geflohen."
Es ist eine traurige Geschichte. Aber so unvermittelt, wie Martin sie erzählte, so rasch wechselt er auch wieder das Thema. Er redet über den Stammtisch. Ist das jetzt ein moderner Stammtisch? Ein Stammtisch 2.0? Wie kam es dazu?
"Es gab schon Excel-Stammtische in Basel und Nordrhein-Westfalen - aber das war zu weit weg", sagt Martin. "Da dachte ich, wenn ich einen in München haben will, muss ich ihn selbst gründen." René Martin, der Excel-Trainer ist, hat dann Kollegen angesprochen und bei Xing, Facebook und in Excel-Blogs nach Stammtisch-Teilnehmern gesucht.
"Am ersten Abend kamen 14 Leute", erzählt er. "Es war ein gigantischer Abend an einer langen Tafel - die Leute waren begeistert." Sie sprachen über Excel und sie lernten voneinander. "Und es entstanden dann ...". Martin sucht nach dem passenden Wort. "Freundschaften ist nicht richtig", sagt er dann, "vielleicht Beziehungen - und da geht es auch darum, dass man Aufträge vermittelt." Es geht also auch ums Netzwerken.