Berufswahl:Auf in den Bewerbungsmarathon

Jobs bei der EU sind begehrt, Zehntausende gut ausgebildete junge Menschen interessieren sich jedes Jahr dafür. Das ist auch der Münchner Studentin Cornelia Nissen zu verdanken. Sie ist eine von 17 deutschen Karrierebotschaftern des Europäischen Amts für Personalauswahl

Von Sabine Buchwald

Remain or leave, in der Europäischen Union (EU) bleiben oder gehen, das war am 23. Juni 2016 die folgenreiche Frage an alle wahlberechtigten Briten. Auch Cornelia Nissen beschäftigte sich just an diesem Tag mit dieser Abstimmung. Sie rang in einem Debattenkurs an der Universität um gute Gründe für den Brexit. Die Studentin war in die Gruppe der EU-Gegner eingeteilt worden. "Uns fehlten die Argumente", erzählt sie von jenem denkwürdigen Abend. "Wir dachten ohnehin, das könne gar nicht passieren." Umso größer war der Schock für sie am Morgen nach der Wahl: 51,9 Prozent hatten für den Austritt gestimmt.

Berufswahl: Cornelia Nissen verbrachte ihr Erasmus-Jahr in Kopenhagen.

Cornelia Nissen verbrachte ihr Erasmus-Jahr in Kopenhagen.

(Foto: Corinna Guthknecht)

Cornelia Nissen brennt für die EU und die Vorteile, die das Staatenbündnis für die derzeit noch knapp 513 Millionen Bürger bringt. Schon seit ihrer Schulzeit ist sie von der europäischen Idee begeistert. Das mag ein wenig an ihrer Herkunft liegen. Sie wuchs im Norden Deutschlands auf und wohnte mit ihren Eltern nur gut zehn Minuten von Dänemark entfernt. Sie hat Dänisch in der Schule gelernt, und als 2001 auf Grund des Schengener Abkommens die Grenzen zwischen beiden Staaten nicht mehr kontrolliert wurden, gestaltete sich der Kontakt zu den Nachbarn noch enger: Einkaufen, Bekannte treffen, die Fremdsprache ausprobieren, das ist seitdem ganz einfach. Nissen schwärmt auch vom Schüleraustausch mit Frankreich, den ihre Schule sehr förderte. Sie habe stets jede Gelegenheit genutzt, ins Ausland zu kommen, erzählt sie.

Lichthof der LMU in München, 2017

An der Ludwig-Maximilians-Universität schreibt Cornelia Nissen an ihrer Masterarbeit in Politikwissenschaft.

(Foto: Stephan Rumpf)

Nun setzt sie sich ehrenamtlich dafür ein, dass auch andere die Chancen ergreifen, die sich ihnen für einen Ortswechsel bieten. Nissen ist eine von 17 deutschen EU Career Ambassadors des Europäischen Amts für Personalauswahl (EPSO), sie ist eine Karrierebotschafterin, die für die Arbeit bei der EU wirbt.

Die blonde, hochgewachsene Frau bringt geradezu ideale Voraussetzungen für diese Aufgabe mit. Nach dem Abitur hat sie in Chile und Venezuela gelebt, während es Studiums ein knappes Jahr als Erasmus-Studentin in Kopenhagen verbracht. Sie mag den Kontakt zu Menschen und sie reist gern, Gründe, warum sie eine Ausbildung zur Flugbegleiterin machte und vier Jahre mit diesem Job durch die Welt flog. Derzeit ist die 26-Jährige nach einem Bachelor in VWL in München und schreibt an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) an ihrer Masterarbeit in Politikwissenschaften. Im Sommer will sie damit fertig sein. Außerdem beschäftigt sich Nissen am Rachel Carson Center der LMU in Environmental Studies mit der Finanzierung von Nachhaltigkeitsthemen. Diesen Weg möchte sie künftig weiterverfolgen, am liebsten in einer der EU-Institutionen in Brüssel oder Luxemburg.

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Als Karrierebotschafterin gehört es zu ihren Aufgaben, für eine Karriere dort zu werben, aber das schließt nicht aus, sich selbst darum zu bemühen. Nissen wird versuchen, einer der begehrten Beamenplätze zu bekommen. Sie will mit 30 000 Bewerbern konkurrieren.

In einer umfangreichen Fortbildung in Brüssel hat man die Ambassadors darauf vorbereitet, andere gut ausgebildete, junge Menschen für einen EU-Job zu begeistern. Nach diesem Seminar sind die Berufsbotschafter ausgeschwärmt und haben wie Cornelia Nissen auf Berufsmessen Vorträge gehalten, Netzwerke aufgebaut, vor allem immer wieder in Gesprächen Mut gemacht, sich doch zu bewerben. "Ich will vermitteln, hey, Europa ist eine Option für mich", sagt Nissen. Gesucht werden Leute aus allen Bereichen, nicht nur Absolventen mit einem Master in Politik. Wissenschaftlich zu denken ist ebenso gefragt wie ein geisteswissenschaftlicher Hintergrund. Nicht für den Profit einer Firma, sondern für Europa zu arbeiten und mitzugestalten, das findet Nissen so spannend.

TU Garching bei München, 2018

Auch die TU mit ihrem Campus in Garching pflegt den Austausch.

(Foto: Florian Peljak)

Jedes Jahr im Frühjahr beginnt der sogenannte Generalisten-Concours, der Bewerbungsmarathon für die EU-Karriere, bei dem alle starten können - unabhängig von Alter und Ausbildung. Auf der EPSO-Seite kann man sich stundenlang durch Informationen klicken. Was vorausgesetzt wird, ist in wenigen Punkten erklärt: Man muss EU-Bürger sein, ein Hochschulstudium absolviert oder Berufserfahrung haben, fließend eine EU-Sprache sprechen und eine weitere einigermaßen gut beherrschen. Kommunikationsfähig und lernwillig sollte man außerdem sein, mit Problemen umgehen können und sich als widerstandsfähig auch in stressigen Situationen erweisen. Und natürlich müsse man bereit sein umzuziehen. Aus Deutschland, besonders aber aus München, bewerben sich nicht so viele Leute, sagt Nissen. Wahrscheinlich weil es hier zu viele gute Jobs gebe und der Lebensstandard hoch sei. Berge und Seen vor der Haustür, das hat Brüssel nicht zu bieten. Doch die Stadt sei viel schöner, als sie gedacht habe, sagt Nissen. Sie jedenfalls würde sofort dorthin gehen.

Akademischer Austausch

Als "Meilenstein" bezeichnet Christoph Karmann seinen Erasmus-Aufenthalt in Spanien. Die Zeit habe seine Art zu denken, zu handeln und zu leben verbessert, lässt sich der Sportwissenschaftler auf der Webseite des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) zitieren. Karmann war 2008 als Student der Technischen Universität München (TU) in Madrid und derart begeistert, dass er nach dem Diplom für vier Jahre in die spanische Hauptstadt zurückkehrte. Erasmus, das ist nicht nur der Vorname des berühmten Gelehrten von Rotterdam. Dieser Name steht für ein europäisches Förderprogramm und ist zum Symbol des akademischen Austausches geworden. Seit seiner Gründung im Juni 1987 hat sich das Programm zum weltweit größten seiner Art entwickelt. Etwa 4,5 Millionen Studierende haben bislang von dieser Idee profitiert, allein in Deutschland weit mehr als 650 000. Sie geht auf eine Initiative der Italienerin Sofia Corradi zurück und soll junge Menschen für einen Aufenthalt im Ausland begeistern - und vor allem den Weg dorthin erleichtern. Anfangs dachte man nur innerhalb von Universitätszirkeln, was ungerecht und zu kurzgegriffen war. Vor einigen Jahren hat sich das Programm auf Auszubildende und auch Jungunternehmer erweitert. Dennoch bilden die Allianzen der Hochschulen die stabilsten Pfeiler. Allein von der TU und der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) gehen jedes Jahr jeweils etwa 1000 Studenten an eine der je 300 Partnerhochschulen in EU-Ländern und anderen teilnehmenden Staaten wie Island, Liechtenstein oder der Türkei. Der Aufenthalt kann drei bis maximal zwölf Monate dauern. Grandios daran: Mögliche Studiengebühren für die beteiligten Universitäten entfallen; je nach Land gibt es ein Stipendium von bis zu 300 Euro monatlich dazu und Leistungen werden angerechnet.

Die Mittel dafür kommen aus den Töpfen der EU, weshalb sich alle bewerben können, die Vollzeit an einer EU-Universität studieren. Detaillierte Informationen, auch wie es nach der geplanten Reform 2020 weitergeht, geben jeweils die Auslandsbüros der Unis. An der LMU beispielsweise trifft man auf die gebürtige Britin Jean Schleiss, die nach dem Brexit gefragt, antwortet: "Das ist eine Katastrophe. Aber alle britischen Partner wollen weiter kooperieren." bub

Der Concours sei schwer, sagt die Karrierebotschafterin, aber wenn man sich gut vorbereite, dann schaffe man bestimmt den ersten Schritt. Logisches Denken, mit Zahlen und Buchstaben zu jonglieren, könne man schließlich üben. Es sei wichtig, so Nissen, dass man nicht zu schnell aufgebe. Je nachdem wie weit man komme, dauere das Verfahren insgesamt zehn Monate. Gut zu wissen: Wenn es nicht auf Anhieb klappt, kann man es immer wieder probieren.

EU-Erfahrung lässt sich auch über ein Praktikum sammeln. Die Auswahlverfahren für die meisten Stellen werden von den Institutionen selbst vorgenommen. Weil heute alles online geht, muss man sich selten persönlich vorstellen. Laut EPSO werden in der Regel 1000 Euro pro Monat gezahlt, was in Städten wie Brüssel oder Luxemburg sicher nicht alle Kosten deckt.

Ob Cornelia Nissen vom Herbst an tatsächlich dort, in München oder anderswo leben wird, ist noch völlig unklar. Egal wo, sie fühle sich überall als Europäerin, sagt sie. Klar, dass ihr die Europawahl Ende Mai wichtig ist. Sie hoffe, dass vor allem die jungen Leute vom nahenden Brexit gelernt haben und zur Wahl gehen. "Nur wer wählt, kann mitbestimmen", sagt Nissen. "Die junge Generation nimmt die Vorteile der EU für selbstverständlich, aber das sind sie nicht." Für die Master-Studentin wäre es ein weiterer Schock, wenn die Rechtspopulisten die Oberhand im europäischen Parlament gewännen. Um das zu verhindern, wird sie in den nächsten Wochen noch viele Gespräche führen und für offene Grenzen und Europa werben.

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