Süddeutsche Zeitung

Lesung von Bernardine Evaristo:"Schreiben ist eine Art Zuhause für mich"

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Über einen Abend mit der Londoner Schriftstellerin im Münchner Literaturhaus, an dem sowohl ihr Humor als auch ihre klare Agenda spürbar werden.

Von Antje Weber

Dieses Funkeln in den Augen. Dieser hellwache und zugleich verschmitzte Blick, mit dem Bernardine Evaristo die Welt allgemein und den ausverkauften Saal des Literaturhauses im Speziellen bedenkt, er setzt sich in der Erinnerung fest. Und er sagt ja auch einiges über diese Schriftstellerin und Aktivistin aus, die an diesem Mittwoch-Abend zum ersten Mal in München zu erleben ist.

Wer gut schreibt, kann nicht zwangsläufig auch gut auftreten. Bernardine Evaristo kann beides. Dass die heute 63-Jährige am Anfang ihrer Laufbahn nicht nur Theaterstücke verfasst, sondern auch selbst als Schauspielerin gearbeitet hat, ist deutlich zu spüren. Was für eine Bühnenpräsenz, was für eine Ausstrahlung! Lockerheit, Humor und gleichzeitig eine klare Agenda finden nicht nur in ihrem Werk aufs Sympathischste zusammen. Wie wenig selbstverständlich es dennoch ist, dass sie auf diesem Podium sitzt, es ist der Londoner Schriftstellerin nur zu bewusst.

"Es war ein langer Weg seit meiner Kindheit in den Sechzigern, als meine Familie zur Zielscheibe rassistischer Übergriffe wurde", schreibt sie in ihrem autobiografischen Buch "Manifesto". Der Weg führte sie nach Jahrzehnten des Schreibens zu einem späten Erfolg, den sie seit dem Booker Prize 2019 genießt - und der sie unvermindert antreibt. "Der Mensch, der ich heute bin, schleudert keine Steine mehr an die Mauern der Festung. Ich sitze drinnen in den Gemächern und führe höfliche, eindringliche und beharrliche Gespräche darüber, wie sich überholte Infrastrukturen am besten verändern lassen", schreibt sie. "Die Rebellin im Außen ist zur Vermittlerin im Innen geworden."

Wie sie ihren Einfluss als Vermittlerin nutzt, das fließt auch immer wieder in diesen Abend ein. Wenn sie etwa von der Reihe "Black Britain: Writing Back" spricht, mit der sie bei Penguin Random House an vergessene Schwarze Autoren erinnert: "Es ist wichtig, die Spuren der rassistischen Erfahrung festzuhalten." Und wenn sie von den Überlegungen erzählt, die sie bei ihrem Roman "Mr. Loverman" (Klett-Cotta) beeinflusst haben, den sie an diesem Abend hauptsächlich vorstellt.

"Ich bin der Archetyp einer Londonerin"

Dieser Roman aus dem Jahr 2013 hätte ohne den Erfolg von "Mädchen, Frau etc." und "Manifesto" vielleicht nicht den Weg zur deutschen Übersetzung gefunden. Das in den Lesungen von Schauspieler Stefan Merki so witzig wirkende wie tragisch grundierte Buch über einen alten, heimlich schwulen Mann aus der karibischen Community in London war "kein Bestseller", wie Evaristo in schöner Offenheit erzählt. Vielleicht war die Gesellschaft damals noch nicht bereit für dieses Werk, mit dem Evaristo der bisher stets heteronormativen Literatur über die "Windrush-Generation" (die nach einem Einwandererschiff so benannt wurde) bewusst eine homosexuelle Figur hinzufügen wollte.

Doch es geht Evaristo nicht nur um Aktivismus, wie im Gespräch mit Moderator Tobias Döring deutlich wird. Sie wolle sich mit ihren Figuren immer "auf der Ebene ihrer Menschlichkeit verbinden", sagt sie. Und ob es in diesem Buch und auch ihrem Leben stets um die Suche nach einem Zuhause gehe? Bei dieser Frage zögert sie und erzählt dann von sich als "Archetyp einer Londonerin". Zwar sei sie in ihrem Leben viel umgezogen, ergänzt sie noch, bevor sie sich einer langen Signierschlange widmet, doch die Konstante sei immer das Schreiben gewesen. Es ermögliche ihr, sich mit ihrem tiefsten Inneren und der Welt zu verbinden: "Schreiben ist eine Art Zuhause für mich."

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