Süddeutsche Zeitung

Berg am Laim:Längst nicht abgedreht

Rita Strothjohann ist mit ihren behutsamen Filmen so etwas wie die Chronistin des Stadtteils Berg am Laim und seiner Bewohner. Porträt einer 86-Jährigen, die weiter Geschichten erzählt - auch mit der Digitalkamera

Von Renate Winkler-Schlang, Berg am Laim

Ein schmucker alter Hof an der Echardinger Straße, Gartenbaustützpunkt des Baureferates. Früher lebte hier Stefan Engert, der letzte Bauer Berg am Laims. Der Behrpark mit seinen alten Bäumen hinter einem schmiedeeisernen Tor ist das grüne Zentrum des Stadtteils, das hat der Bürgerkreis vor Jahren erreicht. Die Maikäfersiedlung war jahrzehntelang umkämpft, die Mieterinteressengemeinschaft setzte sich für behutsame Sanierung der alten Blöcke ein. Das alte Mahlerhaus, die Loretokirche: Orte in Berg am Laim, für die frühere Generationen eingetreten sind, um die sich Geschichten ranken.

Diese wurden weitererzählt, teilweise aufgeschrieben. Rita Strothjohann aber hat schon früh gefilmt, ließ Zeitzeugen zu Wort kommen. Bei der Stadtteilwoche im Juni waren ihre in den Achtzigerjahren entstandenen Streifen der Renner. Mancher fragte, wo man Strothjohanns Werke kaufen könne. Doch bisher gibt es von den VHS-Kassetten nur wenige Abzüge auf CD. Die 86-Jährige bewahrt sie in einer Schachtel auf.

Oft genug hat sie als der führende Kopf der "Videogruppe Berg am Laim" Menschen einfühlsam interviewt, aufmunternd genickt, geduldig geschwiegen, bis sie die richtigen Worte fanden, mit ihrer ruhigen, klaren Stimme kurz nachgefragt. Nun blickt sie auf ihr eigenes Leben zurück. "Ich bin eine Preußin." Sie lacht. Am Rhein wächst sie auf mit zwei älteren und drei jüngeren Brüdern, der Vater ein gestrenger Forstmeister aus Westfalen, die Mutter "etwas legerer". Der Vater besteht darauf, dass sie Abitur macht, dabei war ihr Mathe ein Graus. Zudem weiß sie schon seit der Zeit, als sie fasziniert Mutters Schuhschachtel mit den geheimnisvoll durchsichtigen Negativen unter die Lupe nimmt, ohne viele Fingerabdrücke auf dem empfindlichen Material zu hinterlassen, dass sie auf die Fotoschule will. "Auch das Journalistische hat mich interessiert, seit ich in der zweiten Klasse den Eltern die Zeitung vorgelesen habe." Schon damals schreibt sie kleinere Berichte. Und sie freut sich über erste Kinobesuche, über Trickfilme, die rückwärts noch viel lustiger sind, über Karl Valentins Episoden. Später imponieren ihr auch die Filmaufnahmen Leni Riefenstahls von den Olympischen Spielen 1936 in Berlin.

Ein Jahr verbringt Rita Strothjohann in England nach dem Abi "im Haushalt", bewirbt sich bei der Fotoschule München, ist aber wohl noch schlicht zu jung. Es folgt ein Jahr Bürojob in Wiesbaden mit Steno und Schreibmaschine: Da verdiente sie sich ihre erste Leica-Kamera. Der Vater hätte ihr keine gekauft. Er wollte, dass sie studiert. Beim dritten Anlauf hat es endlich geklappt in München, bei der renommierten "Staatslehranstalt für Photografie". Sie kennt die Sehenswürdigkeiten bisher nur von einem Schwarzweiß-Leporello. "Ich bin mit fliegenden Fahnen nach München, ich war so glücklich."

Ihr bekanntestes Porträt während der Ausbildung ist eines des Physikers Werner Heisenberg, es wird mehrmals veröffentlicht. Gesellenprüfung, Meisterprüfung: "Ich hätte Lehrlinge ausbilden können. Aber ich hab mir das Zertifikat nie an die Wand gehängt." Das Risiko eines eigenen Studios ist ihr zu groß. Als freie Fotografin ist sie beim Eucharistischen Weltkongress, es entsteht ein Buch: Da war der Vater zum ersten Mal stolz.

Heiraten? "Das muss man abwägen", rät ihr die Mutter. Sie setzt also darauf, sich selbst ernähren zu können, hat "viele Freunde, viele Interessen, überhaupt viel Glück gehabt". Sie arbeitet, teilweise halbtags, in Agenturen, Verlagen, Archiven, verkauft Fotos an Zeitungen und Magazine, hängt eine Ausbildung an der Fachakademie für Werbung dran: "Ich hab eigentlich immer irgendwelche Kurse gemacht." Dann empfiehlt ihr eine Kollegin von der Fotoschule, es auch mal beim Bayerischen Rundfunk zu probieren, als Kameraassistentin. Sie blitzt ab. "Glauben Sie denn, dass ihnen Männer ihr Stativ tragen", wird sie gefragt. Rita Strothjohann kauft sich eine eigene Super-8-Filmkamera, filmt Hochzeiten, dreht einen Streifen über einen befreundeten Bildhauer, "auf Amateurbasis", wie sie heute sagt. "Dann kam Video."

Sie macht wieder mal einen Kurs, die Videogruppe Berg am Laim entsteht. Sie leihen sich übers Wochenende Kameras bei der Medienzentrale der Diözese. "Oral History" - erzählte Geschichte, ist damals modern. 1983 entsteht "Bloß ein paar Bäume", der Film über den Behrpark, in dem wichtige Bürgerkreis-Aktive wie Hildegard Steffen oder Helmut Piening noch richtig jung sind. Strothjohann konzipiert die Reihe "Nachbarn erzählen", schneidet dabei Zeitdokumente zwischen die Erzählsequenzen, die bis in den Ersten Weltkrieg zurückreichen. Stefan Engert, der letzte Bauer von Berg am Laim, ist schon 85 Jahre alt, als sie ihn 1984 begleitet, aufs Feld und in den Stall, in seine gute Stube, zum Kartenspielen in sein Stammlokal. Der große Hagel hat seine Ernte verwüstet. Sie lässt ihn erzählen, ohne hektische Schnitte, ohne lästige Hintergrundmusik. Damals hatte man noch Zeit. Schön, anrührend ist der Film, auch wenn die Bilder nicht gestochen scharf sind.

Besonders viel Zeit nimmt sie sich 1987 für ihre "Impressionen aus der Maikäfersiedlung", wichtiges Dokument eines untergegangenen Siedlungsgefühls, das unter anderem bei einer turbulenten Sitzung in der "Taverne Odyssee" auch den damaligen Bezirksausschussvorsitzenden Hermann Weinhauser am Rednerpult zeigt. Und ist das dort im Hintergrund nicht der junge Mieteranwalt Christian Ude?

Rita Strothjohann erwirbt sich so Erfahrung im Filmemachen. Das gibt ihr den Mut, dem Bayerischen Rundfunk eigene Filmprojekte vorzuschlagen. Sie realisiert "Deckname Mädi" über eine Klosterschwester, die regelmäßig Nahrungsmittel ins KZ Dachau schmuggelt, und einen zweiten, ebenso ergreifenden Film über "Die Priester von Dachau".

Immer noch filmt sie, "jetzt digital", wie sie sagt, vor allem im Verwandtenkreis. Und immer ist Rita Strothjohann interessiert am Tagesgeschehen und daran, wie sich ihr Stadtteil entwickelt. Lange hat sie sich in der Pfarrei St. Michael engagiert. Derzeit freut sie sich, dass ein Standort fürs künftige Kulturbürgerhaus feststeht. Sicherlich ein Ort, an dem ihre Filme zu sehen sein werden.

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Quelle:
SZ vom 13.10.2018
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