Migration:Alzheimer-Beratung auf Türkisch

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Bislang hat Sedef Vetter (li.) ihre Mutter selbst unterstützen können. Bei Gerontologin Semra Altinişik findet sie Rat und Hilfe, wie es weitergeht. (Foto: Florian Peljak)

In der Alzheimer Gesellschaft München berät Gerontologin Semra Altinișik Angehörige und Betroffene auch in ihrer Muttersprache. Menschen mit Migrationsgeschichte sind oft früher von der Krankheit betroffen.

Von Renate Winkler-Schlang, Berg am Laim

Sedef Vetters Mutter vergisst immer wieder, dass die eine Enkelin in einer anderen Stadt wohnt. Sie bittet um die Telefonnummer ihrer Tochter, obwohl der Zettel mit den Nummern direkt vor ihr liegt. Sie will nicht zum Arzt, verweigert sich allen rationalen Argumenten und Überredungskünsten. Sie fühlt sich verfolgt. Das alles sind Symptome für eine beginnende Demenz. Obendrein hat sie Heimweh nach ihrer Heimat, der Türkei.

Vergessen kann man auch auf Türkisch. Alzheimer und Demenz sind nicht nur ein Problem alteingesessener Deutscher, im Gegenteil, weiß Semra Altinișik von der Alzheimer Gesellschaft München (AGM): Migration und der dadurch im Leben entstandene Stress und Anpassungsdruck steigern sogar das Krankheitsrisiko, Migranten seien im Schnitt fünf bis zehn Jahre früher betroffen. Sedef Vetters Mutter kam vor Jahrzehnten nach Deutschland, doch die Sprache hat sie wie viele aus der ersten Generation der Gastarbeiter nie richtig gelernt. "Sie redet kleinstes Deutsch", sagt die Tochter. Worte wie "Zentralverriegelung" kenne sie einfach nicht. "Und selbst wenn sie es könnte - je später man etwas lernt, um so schneller wird es bei Demenz wieder vergessen", weiß die Beraterin.

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Grund genug also für die Alzheimer Gesellschaft, "kultursensibel" zu arbeiten, denn nicht immer sprechen die Angehörigen so einwandfrei Deutsch wie Sedef Vetter, die mit einem Deutschen verheiratet ist. Gerade bei dieser Diagnose öffnet die Muttersprache bei Betroffenen das Herz, ist ein Anker im Meer des Vergessens. Und die meisten Angehörigen kapieren in der Ursprungssprache viel besser, welche Wege im Dschungel von Krankenkassen und Behörden sie nun gehen können, um Unterstützung zu finden, welche Geld- und Sachleistungen sie bekommen können, wenn sie sich nur aktiv bemühen.

Daher sieht die Alzheimer Gesellschaft es als großes Glück, dass sich auf die Suchanzeige für eine Beraterin Selma Altinișik gemeldet hat, die fließend deutsch und türkisch spricht. Bislang konnte man nur auf Deutsch und Englisch beraten. Als Glück empfindet es auch die 39-jährige Gerontologin selbst. Sie hat am Institut für Psychogerontologie der Uni Nürnberg geforscht, hat ihre Abschlussarbeit über das Selbsterleben von Menschen mit Demenz geschrieben, arbeitete später im Memory-Zentrum des Klinikums Neuperlach. Nun, nach der Kinderpause, hat sie im Zentrum an der Berg am Laimer Josephsburgstraße 92 ihr neues Einsatzgebiet, nicht nur, aber auch mit türkischen Klienten.

"Ein Hamster im Rad hat mehr Spaß": So beschreibt gerade Sedef Vetter ihre Bemühungen um die immer halsstarriger wirkende Mutter. Sie schildert Begebenheiten, Semra Altinișik hört geduldig zu und nickt verständnisvoll. "Es kann keiner verlangen, dass Sie sich komplett aufopfern." Die Tochter erleichtern solche Sätze. Sie steht ganz am Anfang, kann sich im Moment noch gar nicht vorstellen, dass die Mutter eine andere Helferin als die eigene Tochter dulden würde. Semra Altinișik erklärt sich in dem Gespräch zum Hausbesuch bereit, was eigentlich nicht routinemäßig vorgesehen sei. Die Tochter lächelt dankbar, freut sich: "Auf Türkisch - da wird sie sich gleich heimisch fühlen."

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Die Alzheimer Gesellschaft arbeitet mit Wohlfahrtsverbänden wie der Inneren Mission zusammen, so gelingt es meist, aus dem großen gemeinsamen Pool muttersprachliche ehrenamtliche Helfer zu finden, die regelmäßig ein paar Stunden die Woche pflegende Angehörige entlasten, ergänzt Altinișik. Sedef Vetter nimmt noch wichtige Tipps mit: In einfachen Sätzen mit der Mutter sprechen, immer "auf Augenhöhe", immer positiv, ohne Vorwürfe, ohne Warum-Fragen. Sie wird wiederkommen. Notfalls kann die Beraterin ihr dann auch ein auf Migranten eingestelltes Altenheim etwa von Münchenstift empfehlen.

Im Zentrum der Josephsburgstraße hat man mit dieser Krankheit bereits große Erfahrung, 1986 wurde in München die erste lokale Alzheimer Gesellschaft gegründet, lange vor der Alzheimer Gesellschaft Deutschland. Vorher gab es keine spezialisierte Anlaufstelle für pflegende Angehörige. Es begann mit einer Beratung einmal die Woche, berichtet Geschäftsführer Tobias Bartschinski. Inzwischen hat sich viel getan: Jetzt hat die Gesellschaft acht feste Mitarbeiter. Sie bietet Beratung im eigens leicht nostalgisch eingerichteten Ambiente, 2018 waren es 4251 Gespräche, in Ausnahmesituationen macht man auch Hausbesuche. Es gibt Seminare und Vorträge. Seit 2007 kümmert sie sich unter dem Motto "AGM aktiv" besonders um Menschen, die sehr früh, mitten im Berufsleben, die Diagnose bekommen, aber noch viele Fähigkeiten haben. Sie fallen oft - symbolisch gesehen - in ein Loch. Die AGM macht ihnen "tagesstrukturierende Angebote" wie etwa Kunsttherapie.

Seit Jahren betreibt die AGM im Alten- und Service-Zentrum (ASZ) Altstadt ihr beliebtes Tanzcafé, die Texte alter Lieder und der Rhythmus von Musik erfreuen die Kranken. In Angehörigengruppen sprechen sich die Pflegenden gegenseitig Mut zu, mancher bleibt über den Tod der Pflegeperson hinaus dabei. Die AGM sei in München gut vernetzt, sagt Bartschinski, etwa mit Vereinen wie Carpe Diem oder den Demenz-WGs. Auch eine Liste von Therapeuten, Ärzten und Heimen kann man bei der Einrichtung bekommen. Den von der AGM verfassten Demenz-Wegweiser gibt es bereits in dritter Auflage. Die Alzheimer Gesellschaft bietet Demenzberatung nicht nur im eigenen Haus an, sondern auch in den ASZ von Isarvorstadt, Laim, Solln-Forstenried, Freimann und Neuhausen.

© SZ vom 28.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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