Verdrängen, leugnen, aufs Juristische reduzieren – wie lebt man weiter mit Schuld, aber auch mit den Schuldigen? Dieser Frage spürt Carolin Otto in ihrem Buch „Berchtesgaden“ nach, dem ersten Roman, den die Filmemacherin und Drehbuchautorin (unter anderem für „Tatort“, „Polizeiruf“ oder „Bulle von Tölz“) geschrieben hat. Freilich ist es nicht zum ersten Mal, dass sich Otto mit dem Nationalsozialismus beschäftigt. Unvergessen ihr Kinofilm „Der weiße Rabe“, den sie 2009 über den Holocaust-Überlebenden Max Mannheimer drehte.
Die Handlung des Romans setzt am 25. April 1945 ein, jenem Tag, an dem die Amerikaner den Obersalzberg, Hitlers Alpenfestung und zweites Zuhause, bombardieren und in Schutt und Asche legen. Der Ort Berchtesgaden selbst bleibt weitgehend verschont. Die Einheimischen plündern noch schnell die Villen der geflüchteten NS-Größen im sogenannten „Führersperrgebiet“. Dann sind auch schon die amerikanischen Soldaten da, befreien den Ort, setzen das Military Government ein. Und die Berchtesgadener machen mühsam – zwölf Jahre Nazi-Begeisterung lassen sich nicht einfach abschütteln – die ersten Schritte in Richtung Demokratie.
Carolin Otto entdeckte das Thema für sich während ihrer Arbeit an der ZDF-Fernsehserie „Lena Lorenz“, die am Fuße des Watzmanns gedreht wird. Fasziniert von dem symbolträchtigen Ort, beschloss sie herauszufinden, wie sich die Beteiligten, ob Mitläufer, Nazi-Gegner, Kriegsheimkehrer, US-Soldaten oder angeblich ahnungslose Einheimische, damals wohl gefühlt hatten. Entstanden ist ein dichtes, farbenfrohes Panorama jener ersten Wochen nach dem Krieg, gleichermaßen spannend wie unterhaltsam zu lesen.
Die Perspektiven, aus denen Carolin Otto diese Tage schildert, sind ganz unterschiedlich. Da ist der Emigrant Frank Rosenzweig, ein in München geborener Jude und Jurist. Der Captain der amerikanischen Armee gilt als gefürchteter Verhörspezialist. Ihm obliegt es, den Berchtesgadenern auf den Zahn zu fühlen, darunter „feigen Nazi-Wendehälsen“, die ihrer Meinung nach nur auf Befehl handelten.

Er stellt Sophie ein, die eigentliche Protagonistin des Romans. Die 19-jährige Bauerntochter müht sich schon geraume Zeit, mithilfe von Shakespeare-Dramen Englisch zu lernen. Die Bücher hatte ein ehemaliger Sommergast auf dem Hof ihrer Eltern zurückgelassen. Für Rosenzweig übersetzt sie die Befragungen der Einheimischen, ist entsetzt über die Gräuel, von denen sie tatsächlich zum ersten Mal hört. Sie setzt sich nicht nur mit ihrer eigenen Verantwortung auseinander, sondern verliebt sich in einen schwarzen GI. Der wiederum fühlt sich wohl in Deutschland, denn er genießt hier Freiräume, die es in den USA aufgrund der Rassentrennung für ihn nicht gibt.
Nicht erfunden, sondern historisch verbürgt ist die Figur des Volkskundlers Rudolf Kriss. Wegen regimekritischer Äußerungen wurde der Erbe des Hofbräuhauses Berchtesgaden vom Volksgerichtshof 1944 zum Tode verurteilt, später zu lebenslanger Haft begnadigt und 1945 von den Amerikanern befreit. Er kommt gerade in seinen Heimatort zurück, ist, weil unbelastet, für die Amerikaner ein idealer Bürgermeister, ein Posten, den er nach 1945 tatsächlich für einige Monate innehatte. Nicht leicht für ihn, auf die Menschen zu treffen, die ihn bei den Nazis denunzierten.
Was das Buch auszeichnet, ist bei aller literarischen Erfindung die profunde Recherche. Carolin Otto hat sich tief in die frühe Berchtesgadener Nachkriegszeit eingearbeitet und zahlreiche historisch belegte Daten, Ereignisse und Details ausgegraben. Die Drehbuchautorin kann sie nicht verleugnen, fast alle Figuren könnten sofort in einem Film mitspielen. Ein idealer Bösewicht wäre Max, Sophies Bruder und Mitglied der Waffen-SS: sehr gutaussehend, aber kalt und grausam, was ihn für Frauen anscheinend besonders attraktiv macht.
Seine und die Filmtauglichkeit manch anderer Figur ist nicht erstaunlich, denn „Berchtesgaden“ war, wie Otto in ihrer Danksagung schreibt, ursprünglich als TV-Serie geplant. „Bis jetzt gibt es keine Serie, der Roman war schneller. Aber die Zukunft ist offen für alles.“
Carolin Otto: Berchtesgaden, Lübbe Verlag, 544 Seiten, 24 Euro