Süddeutsche Zeitung

Britten:Am Ende eine offene Frage

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In Benjamin Brittens "War Requiem" verschafft Jansons jeder Note ihr Recht.

Von Paul Schäufele

Protokoll der Grausamkeit und große Oper, Echoraum der Music Halls und pazifistisches Mahnmal: Benjamin Britten, Meister der Gleichzeitigkeit, hat im "War Requiem" sein integratives Musikverständnis auf überwältigende Weise realisiert. Und es ist ein Werk, von dem man sich gerne überwältigen lässt, vom hinkenden Trauermarsch des Beginns bis zum vor Symbolkraft strahlenden Ende, der Synthese aus den Chören, kleinem und großem Orchester. Hier kommt so viel zusammen, dass in der Partitur die Noten kaum noch zu erkennen sind.

Unter Mariss Jansons Dirigat aber werden sie hörbar, jede kommt zu ihrem Recht. Die Live-Einspielung, die Jansons 2013 mit Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Tölzer Knabenchor sowie einer glänzenden Solistentrias vorgelegt hat, setzt Maßstäbe in puncto dramaturgischer Sorgfalt und Ausgewogenheit. Den Furor des "Dies irae" überführt Jansons in eine konzentrierte Schlachten-Choreografie in unerbittlichen Rhythmen, den Blechbläser- und Schlagwerk-induzierten Lärm des "Libera me" in planvolle Verzweiflung. Dazwischen: Emily Magees voluminöser Sopran, der das Lacrimosa in besten Puccini-Samt kleidet und das sardonisch lächelnde Soldaten-Duett (Mark Padmore und Christian Gerhaher), das mit den Worten Wilfred Owens von der Lust der Kriegsschrecken singt.

Für die Zugänglichkeit dieser Requiem-Vertonung ist Britten, dieser populärste Außenseiter des Musik des 20. Jahrhunderts, mehr als einmal gerügt worden. Doch Jansons' Interpretation macht die Widerstände spürbar. Die Schönheit ist immer gefährdete, kritische Schönheit. Und so ist der ausgedehnte Schlussteil, "Let us sleep now", der in jedem Fall berührt, bei Jansons frappierend, weil kein anderer Dirigent, auch Britten selbst nicht, die Stille nach dem Amen so konsequent als Abbruch erfasst hat; kein Trost, keine Erlösung ist hier zu finden, nur das Einschlummern über einer offenen Frage.

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Quelle:
SZ vom 01.04.2020
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