Süddeutsche Zeitung

Bayerische Staatsoper:Gräfliche Sexualtherapie

Die Staatsoper probiert sich gerne im Stream. Nun zeigt Regisseur Axel Ranisch, dass es immer noch ungewöhnlicher geht

Von Egbert Tholl

Die Bayerische Staatsoper wird nicht müde, neue Stream-Ideen auszuprobieren. Es ist ja auch ungerecht von dem blöden Virus, ausgerechnet die letzte, durchaus beherzt geplante Spielzeit des Opernintendanten Nikolaus Bachler annähernd zu verunmöglichen. So ein Virus hat einfach keinen Takt. Aber die Staatsoper Einfälle, wenn ihr schon die Zuschauer verwehrt werden. Eben erst war im Montagskino der Staatsoper, also in der Reihe der "Montagsstücke", Marcus H. Rosenmüllers Rossini-Stummfilm "Il signor Bruschino" über die digitale Bühne gegangen, nun folgte mit Axel Ranisch der nächste opernliebende Filmregisseur. Er inszeniert ein Stücklein, das 1909 in München uraufgeführt wurde, "Il segreto di Susanna" von Ermanno Wolf-Ferrari; das dauert 50 Minuten und ist reizend.

Zugegeben: Wenn man tags zuvor gerade eine Oper live gesehen hat, als einer von 50 physisch vorhandenen Zuschauern, ist Ranischs Ansatz erst einmal irritierend. Das Live-Erlebnis war in der glücklichen Schweiz, in Luzern, dort inszenierte Max Hopp Mozarts "Così". Nun kann man, schon allein aufgrund der unterschiedlich intensiven Knebelungen der Kunst, das eine überhaupt nicht mit dem anderen vergleichen, aber so viel ist klar: Allein gemessen an den Konventionen der Streamerei arbeitet Ranisch ungewöhnlich.

Vor vielen Jahren gab es die geheiligte Familientradition, am Neujahrstag vor dem Fernseher zu sitzen. Dort wurde das Neujahrskonzert aus Wien übertragen, dessen Walzerseligkeit fürs aufgeraute Neujahrsgemüt schon der richtige Balsam war, was durch eingespielte Ballettsequenzen noch verstärkt wurde. Zwar konnte man rätseln, wie im Winter Tänzerinnen und Tänzer federleicht und in die Konturen auflösender Hamilton-Ästhetik durch den Schlosspark von Schönbrunn schweben konnten. Aber erstens weiß man nicht, ob man der eigenen Erinnerung vollkommen trauen kann. Und zweitens: In gewisser Hinsicht wiederholt sich ein bisschen was von damals nun in Ranischs Inszenierung.

Graf Gil erschnuppert in seinem Hause Zigarettenrauch, hält diesen für eine Hinterlassenschaft eines Liebhabers seiner jungen Frau Susanna, plant, diese zu überraschen, findet diese dann selbst rauchend vor, versöhnt sich mit ihr und greift selber zur Zigarette. Was eher wie ein Teenagerproblem wirkt, erhob Wolf-Ferrari zu einer ironischen Petitesse, mit zitatreicher Musik großen Gefühls, mit duftender Schönheit der Melodien. Hier im Stream nun erkundet der an sich stumme Diener (Heiko Pinkowski), welcher bei Ranisch zu einem Sexualtherapeuten erhoben wird, erst einmal die Bühne des Nationaltheaters, besucht die dort sitzenden Musikerinnen und Musiker und den Dirigenten Yoel Gamzou. Auf der Bühne deuten ein paar Möbel das Therapiezimmer an, das gräfliche Paar erscheint, und das possierliche Treiben über Eifersucht und Raucherinnenlust hebt an.

Ranisch hüpft dabei zwischen der live gefilmten Herstellung von Musik und Gesang und Filmsequenzen, die er mit den Solisten vorab in einer Nymphenburger Villa drehte. Manchmal überlagern sich Film und Bühne, immer aber treffen die Filmbilder, zu denen man Musik und Gesang hört, die spielerische Übersteigerung der Komposition. Michael Nagy ist in Film und in echt ein wunderbar rasender Gatte, Selene Zanetti eine im Gesang und im Spiel gelassen überlegene Gattin, die sich profund im Schaumbad rekelt und vom stets präsenten Diener/Therapeuten mit Zigaretten versorgt wird. Im Film qualmt es dick aus einem Schrank, verwüsten Gatte und Gattin im sportlichen Clinch das Ambiente. Schnitt: Nun ist auch des Therapeuten Raum auf der Bühne in Unordnung geraten. Das hat alles sehr viel Charme. Und da niemand auf die Idee kommen könnte, in Wolf-Ferraris Intermezzo mehr als eine Fingerübung zu vermuten, wird man im Stream bestens bedient, bis dereinst wieder die großen Opern in großen Räumen folgen.

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SZ vom 29.04.2021/van
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