Barrierefreiheit:Der Dolmetscher, der die Bibel in Gebärdensprache übersetzt

Barrierefreiheit: Ende Januar hat Kilian Knörzer das Projekt in der Münchner Karmeliterkirche vorgestellt.

Ende Januar hat Kilian Knörzer das Projekt in der Münchner Karmeliterkirche vorgestellt.

(Foto: Robert Haas)

Drei Jahre hat Kilian Knörzer an dem Projekt gearbeitet, 325 Videos sind dabei herausgekommen. Doch nicht nur in der Kirche kommen Gehörlose noch zu kurz.

Von Jakob Wetzel

Eine Geburt tut weh, aber in der Bibel steht dazu weiter nichts. Maria habe ihren Sohn geboren, gewickelt und in eine Krippe gelegt, heißt es im Weihnachtsevangelium nach Lukas schlicht. Bei Kilian Knörzer ist das ein bisschen anders. Wenn er von der Geburt im Stall erzählt, schüttelt er seine Hände und faltet sie über dem Bauch, verzieht sein Gesicht und windet sich, zumindest kurz. Dann lächelt er, und mit einer hebenden Bewegung ist auch schon das Kind da.

Kilian Knörzer ist gehörloser Dolmetscher. Er übersetzt geschriebene Worte in Gebärdensprache. In den vergangenen drei Jahren hat er im Auftrag des Erzbistums München und Freising die Bibel übersetzt, zumindest diejenigen Abschnitte der Evangelien, die im Sonntagsgottesdienst gelesen werden. Herausgekommen sind bislang 325 Videos, sie sind alle online verfügbar.

Gehörlose sollen sie in der Kirche am Handy mitverfolgen und so endlich verstehen können, worum es gerade geht. Und sie können in Knörzers Bewegungen zum Beispiel sehen, wie sich die Hirten auf dem Feld fürchten oder wie später die römischen Soldaten den zum Tode verurteilten Jesus mit hämischem Grinsen verspotten. Wenn der Dolmetscher in einem anderen Video erklärt, was die Auferstehung bedeuten soll, dass nämlich die Toten in den Himmel auffahren und nicht etwa als lebende Leichen über die Erde stolpern, dann simuliert er gar einen Zombie: mit erhobenen Armen, heraushängender Zunge, leicht schielendem Blick und wankendem Oberkörper.

Die Kirche ist nur ein Feld von vielen, auf dem Gehörlose zu kurz kommen

Knörzer geht es nicht nur um die Bibel. Er ist zwar seit Kindestagen katholisch getauft, aber mit dem Buch habe er sich erst für das Projekt eingehend beschäftigt. Die Kirche ist für ihn ein Feld von vielen, auf dem Gehörlose zu kurz kommen. Und dass Taube wie Hörende gleichermaßen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, das ist für den 37 Jahre alten Gehörlosen zum Lebensthema geworden.

Die Probleme sehe er jeden Tag, sagt Knörzer. Es ist ein Montagnachmittag, er sitzt in einer Ecke der alten Karmeliterkirche am Promenadeplatz; hier hat er vor wenigen Wochen seine Videos vorgestellt, in einer Ausstellung der katholischen Gehörlosenseelsorge. Jetzt sitzt ihm seine Assistentin Daniela Karl schräg gegenüber, sie übersetzt.

Wo soll er anfangen? Vielleicht damit, dass Gebärdendolmetscher bei Live-Übertragungen im Fernsehen oft nicht im Bild seien, sagt er. Dass man bei dem Wort "barrierefrei" in Deutschland mehr an Rollstuhlfahrer denke als an Gehörlose. Oder, ganz konkret, dass bei S-Bahn-Problemen immer nur ein kleines Spruchband über die Anzeigentafel laufe. Man muss ja erst einmal auf die Idee kommen, dort hinzusehen. Und dann sei der Text für viele nur schwer zu verstehen. Denn geschriebenes Deutsch ist anders aufgebaut als die Gebärdensprache. Für Gehörlose ist es eine Fremdsprache. Sie müssen oft Passanten antippen und sie mit Hilfe einer Handy-Tastatur bitten, zu erklären, was los ist.

"Grundsätzlich würde ich mir wünschen, dass man in einem Gehörlosen mehr den Menschen mit besonderen Fähigkeiten sieht, nicht so stark das Defizit", sagt Knörzer. Gehörlose seien zum Beispiel schon wegen ihrer Sprache überdurchschnittlich fingerfertig und hätten ein starkes räumliches Vorstellungsvermögen. Außerdem könnten sie sich besser konzentrieren als Hörende, sie sind weniger leicht abgelenkt.

Im Alltag aber seien viele verunsichert, wenn sie einen Gehörlosen treffen. Da sei mehr Mitleid als Interesse. Und Deutschland sei international im Hintertreffen. Neulich sei er etwa in Brasilien gewesen, erzählt Knörzer. Da habe man an den Universitäten einen Pflichtkurs Gebärdensprache für alle eingeführt. In Deutschland sei das undenkbar.

Seine tauben Eltern haben Knörzer früh zum Lesen animiert

Was es hier bedeuten kann, gehörlos zu sein, zeigt sich an ihm selbst. Knörzer stammt aus Berlin, wo seine Familie lebt. Doch weil es dort damals kein gutes schulisches Angebot für Taube gab, zog er 1991 als Zwölfjähriger nach München, alleine. Hier wohnte er mit anderen gehörlosen Kindern in einem Internat. Nur einmal im Monat fuhr er nach Hause.

Dabei hält er sich selbst für privilegiert: Seine Eltern sind ebenfalls taub, sie wussten, wie sie mit ihm umgehen mussten. Neun von zehn Gehörlosen hätten dagegen hörende Eltern, sagt Knörzer. Und die seien mit tauben Kindern oft überfordert und förderten sie nicht genug, gerade wenn es darum gehe, lesen zu lernen. Später würden sie dann dazu neigen, ihrem vermeintlich unselbständigen Kind viele Entscheidungen abzunehmen, etwa die Berufswahl. Viele Gehörlose seien auch deshalb früher oft Handwerker geworden, Schreiner etwa oder Schmied. Seine eigenen Eltern aber hätten ihn einen eigenen Weg gehen lassen, sagt Knörzer. "Und sie haben mich früh zum Lesen animiert."

Die Bibel gebärden macht mehr Spaß als Seehofer zu dolmetschen

Knörzer ist in München längst angekommen. Seine Schulfreunde leben hier, und er liebt die Berge, ist Mitglied im Wanderklub Gehörlose Bergfreunde. Das Dolmetschen kam mehr durch Zufall dazu. Er habe sich immer für Videos und Technik begeistert, erzählt er. Zunächst habe er daher IT-Systemelektroniker gelernt. Dann wollte er mehr, er machte Fachabitur, studierte Physik und Informatik an der Technischen Universität, brach aber ab und ging an die Uni Aachen, um dort eine neue barrierefreie Internet-Plattform zu entwickeln. Dabei fand er Gefallen am Übersetzen, er ließ sich in Hamburg zum Dolmetscher ausbilden und kehrte mit staatlichem Examen zurück nach München.

Hier engagiert er sich in verschiedenen Projekten des Münchner Gehörlosenverbands - zum Beispiel hat er Kinderbücher in Gebärdensprache übersetzt; die Filme sind unter www.kinderbuecher.gmu.de zu sehen. Die Hoffnung ist, dass sich gehörlose Kinder dadurch fürs Lesen begeistern lernen.

Mit der Medienproduktionsfirma "Spectrum 11" dreht Knörzer zudem unter anderem Informationsfilme für Behörden, Initiativen und Museen. Immer wieder steht er auch für das Bayerische Fernsehen vor der Kamera, als Moderator in der Sendung "Sehen statt Hören". Und hin und wieder übersetzt er live Debatten im Bayerischen Landtag. Ministerpräsident Horst Seehofer hat er bereits gedolmetscht. Und bei der Wahl des Bundespräsidenten an diesem Sonntag ist er ebenfalls im Einsatz.

Es sei schön, bekannten Politikern die eigenen Hände und das eigene Gesicht zu leihen, sagt Knörzer. Einfach sei das aber nicht. Er ist darauf angewiesen, dass ein hörender Kollege das Gesprochene schnell und korrekt verschriftlicht. Wenn der einen Fehler macht, kann er nur entschuldigend mit den Schultern zucken. Und Politikersprache sei überhaupt ein Problem. Gebärdensprache sei sehr konkret und plastisch, viel weniger abstrakt als das, was im Parlament meist gesprochen wird. Redewendungen und Floskeln könne man schwer übersetzen. Und Wortungetüme wie "Finanzaufsichtsrechtergänzungsgesetz" seien geradezu unmöglich zu gebärden; die muss Knörzer langwierig buchstabieren.

Grundsätzlich müsse man außerdem eine neutrale Mimik bewahren, sagt Knörzer - auch dann, wenn einem das, was der Politiker gerade gesagt hat, überhaupt nicht passt. Weil das Übersetzen so anstrengend ist, wird jeweils nach einer Viertelstunde durchgewechselt.

Was denn mehr Spaß mache zu gebärden, die Bibel oder Horst Seehofer? Die Bibel, sagt Knörzer, da könne man in die Geschichten eintauchen, das sei schön. Einfach aber ist auch das nicht. Gemeinsam mit Angelika Sterr von der katholischen Gehörlosenseelsorge hat er bei vielen Passagen lange überlegt, wie er sie gebärden kann - und auch, welche Bibel-Übersetzung sie nehmen sollten.

Eine Reise nach Israel half ihm besser zu verstehen, was er übersetzte

Ihre Lösung war letztlich ökumenisch: Den Vorzug erhielt weder die katholische Einheitsübersetzung, "die ist viel zu wenig bildhaft", noch die Lutherbibel, "da ist die Sprache schön, aber veraltet". Sterr und Knörzer stellten einen eigenen Text zusammen, aus vielen Übersetzungen, zum Teil gar aus deren griechischen Vorbildern.

Und manchmal hatten sie Glück in dem Unglück, dass Deutschland in der Inklusion von Gehörlosen hinterherhinkt: Da stießen sie auf schwierige Textstellen, von denen es bereits Übersetzungen zum Beispiel in die amerikanische Gebärdensprache gab. Knörzer konnte spicken.

Vor eineinhalb Jahren schließlich flog Knörzer eigens nach Israel, um besser zu verstehen, was er übersetzen sollte. Dort sah er den See Genezareth, wie hügelig die Umgebung war und wie tief das Wasser, in der Bibel stand dazu weiter nichts. Und da begriff Knörzer selbst einige Passagen erst richtig, die er schon übersetzt hatte, die erzählen, wie Jesus mit den Jüngern durch das Land zieht. "Ich hätte dort viel früher hinfahren sollen", sagt Knörzer. Das, was in der Bibel stehe, sei für die Gebärdensprache einfach zu wenig. "Ich hatte mir das ganz falsch vorgestellt."

Die Bibelübersetzungen von Knörzer sind im Internet unter www.erzbistum-muenchen.de/bibel-in-dgs abrufbar.

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