Süddeutsche Zeitung

Europawahl:Der Wahlkämpfer, der keinen Wahlkampf macht

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Brexit-Unterhändler Michel Barnier spricht an der TU und präsentiert sein persönliches EU-Regierungsprogramm. Zu seinen Ambitionen aber schweigt er.

Von Thomas Kirchner

Michel Barnier? Warum sollte man sich diesen Mann ansehen, einen in Frankreich eher unbedeutenden und mit 68 Jahren nicht mehr ganz jungen christdemokratischen Ex-Außenminister und Ex-Kommissar, den die meisten nur deshalb kennen, weil er im Auftrag der EU die vertrackten Brexit-Verhandlungen mit den Briten geleitet hat?

Hunderte Zuhörer, überwiegend Studenten, im fast vollen Audimax der Technischen Universität (TU) werden am Montagabend gewusst haben, warum: Der weißhaarige Franzose könnte noch was werden - Präsident der Europäischen Kommission und Nachfolger Jean-Claude Junckers. Das ist so unwahrscheinlich nicht. Der offizielle Spitzenkandidat der Christdemokraten, die wohl wieder die meisten Stimmen holen bei der Europawahl, der ehrenwerte CSU-Politiker Manfred Weber, wird allseits respektiert in Brüssel. Begeisterung löst er kaum aus. Und so könnte es passieren, dass ihm das Europäische Parlament die Gefolgschaft verweigert, dass die Staats- und Regierungschefs das Heft in die Hand nehmen - und sich auf Barnier verständigen, den Kandidaten in spe.

Aber, natürlich: kein Wort von ihm zu diesen Ambitionen, das würde Weber ja desavouieren. Er sei bloß ein "engagierter Bürger", sagt Barnier betont bescheiden, wie schon vergangene Woche vor Studenten im belgischen Löwen und in Kopenhagen. Nur ein Foto, das er auf die Wand projizieren lässt, verrät, wohin es ihn in Wahrheit zieht. Es zeigt ihn, das Wort ergreifend, an Junckers Seite im Kreis der europäischen Staats- und Regierungschefs im Brüsseler Ratssaal.

Aber Barnier, der auf Initiative der Business School HEC Paris nach München gekommen war, ist mehr als ein heimliches Versprechen. Weil er zu den Schlaueren in Brüssel zählt, macht es auch Spaß, ihm zuzuhören. Zunächst blickt er ausführlich auf die Brexit-Verhandlungen zurück, diesem "Spiel, bei dem alle verlieren". Er erklärt, woran es immer noch hakt: dass die EU im Interesse des Friedens in Nordirland auf der in London so unbeliebten Backstop-Lösung bestehen muss. Er flicht Anekdoten ein wie jene über den britischen Ober-Brexiteer Michael Farage, den er nach Visionen für die Beziehungen zur EU nach dem Austritt fragte. Die Antwort: "Nach dem Brexit, Monsieur Barnier, wird die EU für mich nicht mehr existieren." Er skizziert die desaströsen Folgen des Brexit für Großbritannien, das in der Welt von morgen schlicht "nicht mehr am Tisch sitzt", etwa an jenem der acht größten Wirtschaftsmächte. Heute an fünfter Stelle des Clubs, werden die Briten bald nicht mehr mitreden - während die EU auf Augenhöhe mit Chinesen und Amerikanern bleibt.

Barnier präsentiert sich als nüchterner, auf die Sache konzentrierter Diplomatenpolitiker, als Mann der Vernunft, der Erfahrung, des Ausgleichs. Eigenschaften, die ein Kommissionschef besitzen sollte. Im zweiten Teil des Abends präsentiert er sein persönliches EU-Regierungsprogramm, nennt vier Prioritäten: Klimaschutz, Stärkung der (digitalen) Wirtschaft, mehr Eigenverantwortung in der Sicherheitspolitik und eine adäquate Vorbereitung auf die aus seiner Sicht unvermeidliche nächste Migrationswelle Richtung Europa.

Nichts davon ist neu oder revolutionär. Barnier, das wird klar, ist ein Mann der pro-europäischen Mitte. Einer, der auch solche Sätze von sich gibt: "Wir haben dem Ultraliberalismus 30 Jahre lang zu viel Raum gelassen, haben zu viel dereguliert." Oder: "Ein freier Markt heißt nicht, dass jeder machen kann, was er will. Wir brauchen Regeln." Vom Publikum gefragt, wie er die Populisten bekämpfen will, zitiert er sein politisches Vorbild, General de Gaulle: "Il faut combattre la démagogie par la démocratie!" Man dürfe den EU-Gegnern nicht das Feld überlassen und auf keinen Fall schweigen. "Das Schlimmste für die EU ist die Stille." Darin könne die Angst gedeihen.

Das ist, zum Schluss, auch sein Rat an die jungen Europäer: Macht und tut, engagiert euch, fragt nicht nach Erlaubnis, sondern stürmt die Bühne! Wenn man nicht gerade den Brexit verwalten müsse, sei Politik etwas Wunderschönes: "gemeinsam den Fortschritt gestalten". Gemessen am Applaus, hat Michel Barnier sein Publikum erreicht.

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SZ vom 08.05.2019
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