„Wie ein Sturm brachen Beifalls- und Mißbilligungsrufe los und steigerten sich zu einem unglaublichen Lärm. Niemand konnte auch nur die Stimme des Nachbarn vernehmen.“ So berichtet eine Augenzeugin, Romola Nijinsky, in ihrer Biografie über ihren Mann Vaslav Nijinsky, von jenem 29. Mai 1912, der in die Tanzgeschichte eingehen sollte mit der Premiere von „L’Apres-midi d’un Faune“ im Pariser Théâtre du Châtelet. Ein Jahr später, wieder am 29. Mai, im Théâtre des Champs-Elysées bei der Uraufführung von Nijinskys „Le Sacre du Printemps“ ist der Radau noch größer. „Die Leute pfiffen, beleidigten die Darsteller und den Komponisten“, schreibt Madame Nijinsky. Der arme Igor Stravinsky tobte.
Es ist nicht davon auszugehen, dass es im Münchner Nationaltheater während der Ballettfestwoche vom 10. bis 16. April zu ähnlichen Tumulten kommt, wenn Fortschreibungen, Neudeutungen dieser beiden legendären Ballette zu erleben sein werden: Pina Bauschs „Frühlingsopfer“ (1975) und Sidi Larbi Cherkaoui „Faun“ (2009), präsentiert beim Triple-Abend „Wings of Memory“ zusammen mit Jiří Kyliáns „Bella Figura“ (1995).
Seit vergangenem September hat die Münchner Compagnie sich in Bauschs Tanzsprache eingearbeitet, in sehr spezifischen, introspektiven Probenprozessen gemeinsam mit Ballettmeisterinnen und -meistern aus dem Umfeld des Tanztheaters Wuppertal, ehemalige Bausch-Tänzer. Eine weitere ungewöhnliche Erfahrung für das Staatsballett: Getanzt wird das archaische Ritual barfuß auf Torf, der jeden Abend vor Publikum auf einer Art Teppich über den Bühnenboden gekippt und mit Rechen verteilt wird. Ebenfalls eine extreme Herausforderung für klassisch ausgebildete Tänzer: Die sinnlich-animalische Interaktion von Faun und Nymphe in Cherkaouis Stück. Margarita Fernandes und António Casalinho werden dieses fordernde Duett tanzen.
Wie Casalinho und Fernandes sind auch Lucia Lacarra und Matthew Golding Partner im Leben jenseits der Bühne. Gemeinsam haben sie das Ballett „Lost Letters“ geschaffen, das sie am 13. April als Solisten präsentieren. Lacarra, mittlerweile 50 Jahre alt, kehrt mit diesem Gastspiel auf die Bühne des Nationaltheaters zurück, wo sie einst die viel geliebte Primaballerina war. Bewegend die Geschichte hinter dem Stück, von der sie der SZ berichtet hat.

Inspiriert hat Golding und Lacarra zum einen jene „Lost Letters“ betitelte Ausstellung im Smithsonian National Postal Museum in Washington. Abertausende von Briefen von Soldaten aus unterschiedlichen Kriegen wurden dort gezeigt, die nie bei ihren Lieben angekommen waren und deren Adressaten beziehungsweise Nachfahren nun gesucht wurden. Dann stieß Lucia Lacarra eines Tages in einem Flughafen-Bookshop auf eine Sammlung von Liebesbriefen aus dem Ersten Weltkrieg. Einer von ihnen hat Lacarra besonders bewegt: Da schreibt der Kanonier Frank Bracey an seine Frau: „Dearest Win, I have a feeling that I shall not come back again.“ Er bittet sie, sollte er fallen, um ihrer Liebe willen, ein glückliches Leben zu führen.
In „Lost Letters“ stellen Lucia Lacarra und Matthew Golding die Frage, wie das Schicksal dieser Frau verlaufen wäre, wenn sie nie Franks Brief erhalten hätte.