Orthopäden und Physiotherapeuten dürften ein klares Feindbild haben. Einen Herrn namens Filippo Taglioni, der war Choreograf und schickte 1832 seine Tochter Maria mit Schuhen aus verleimten Stoff- und Kartonschichten auf die Bühne, in denen sie auf den Zehen stand und sich elfenschnell drehen konnte. Maria Taglionis Auftritt gilt gemeinhin als Geburtsstunde des Spitzentanzes, bei dem bis heute unzählige Ballerinen-Füße malträtiert werden, aber alle, die nicht drinstecken müssen in so einem Schuh, beim Anblick der schwerelosen Tänzerinnen in verzücktes Stauen geraten. Und noch etwas hat die Ballettwelt dem Signore Taglioni zu verdanken: das Tutu, damals ein Skandal. In diesem Tanz-Herbst wird das alles eine besondere Rolle spielen. Aber keine Angst, man wird auf den Bühnen auch Schläppchen und bloße Füße, sogar dick besohlte Sneakers auf Skateboards sehen. Und auch die Kleiderordnung des Tanzpersonals ist wieder sehr weit gefasst.
Feen und fiese Hexen
Nicht nur blütenweiße, mehrlagigen Tüllröcke, inklusive zarter Feenflügelchen präsentiert „La Sylphide“, dieser romantische Ballettklassiker, mit dem sich am 22. November im Nationaltheater der Vorhang für die erste Ballett-Premiere der neuen Spielzeit hebt. Die Herren von Laurent Hilaires Compagnie tragen ebenfalls Rock: Sie stecken in Kilts, denn die Handlung führt ins schottische Hochland. Dort steht James kurz vor seiner Vermählung mit Effy, als ihm eine Sylphide, ein Wald-Fabelwesen, den Kopf verdreht. Man kann sich’s denken, das geht nicht gut aus, zumal auch eine fiese Hexe mitmischt. Das Staatsballett zeigt das Stück erstmals in der Choreografie von Pierre Lacotte, der die Pariser Uraufführungsversion von 1832 rekonstruierte, inklusive der raffinierten Flugapparaturen, und seine Annäherung an das Original 1971 an der Opéra de Paris herausbrachte. Gibt es doch noch die weit bekanntere Sylphide-Fassung des Dänen August Bournonvilles von 1836, die bis in die frühen 1990er-Jahre in München zu sehen war. Die Lacotte-Version, in ihrer von der französischen Schule geprägten Bewegungssprache, wird von Ballettdirektor Laurent Hilaire mit einstudiert, der das Werk einst selbst an der Pariser Oper tanzte.
La Sylphide, Premiere 22. November, 19.30 Uhr, Bayerisches Staatsoper, www.staatsoper.de
Orff und Bach in Bewegung
Step by Step mausert sich das Deutsche Theater zu einem guten Ort für spannende Tanztheaterproduktionen. Mit der gefeierten Limonada Dance Company, hört man, soll es ein Wiedersehen geben. Und nun kommt aus Münchens israelischer Partnerstadt Be’er Sheva Choreograf Tamir Ginz mit seiner Kamea Dance Company. Das Ensemble wird im Deutschen Theater gleich zwei Produktionen präsentieren: Was sind die „Carmina Burana“, Carl Orffs wuchtige Komposition nach einer mittelalterlichen Liedersammlung, anderes als ein sinnliches Ritual, wie geschaffen für den Tanz? Für München (Vorstellung am 30. Oktober) hat Tamir Ginz sein Stück aus dem Jahr 2007, das auch im Kulturprogramm der Olympischen Spiele in Peking 2008 zu sehen war, eigens überarbeitet.
Johann Sebastian Bachs „Matthäuspassion“ ist Überwältigungsmusik. Doch wie stand der lutherische Thomaskantor zum Antisemitismus? Wie geht man um mit Passagen im Oratorium wie der sogenannten Selbstverfluchung der Juden? Was denken sich Choristen, wenn sie singen „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“? Was denkt das Publikum? Tamir Ginz blickt in seiner „Matthäuspassion 2727“, dem zweiten Tanzstück im Deutschen Theater, aus der Distanz von 1000 Jahren zurück auf das 1727 in Leipzig uraufgeführte Werk – und auf die Leidensgeschichte Jesu. Ginz, dessen Vater das KZ Mauthausen überlebte, hat sein Tanzstück 2017 als Gemeinschaftsproduktion mit der Wuppertaler ansässigen Kantorei Barmen-Gemarke, einem renommierten Laienchor, erarbeitet. Jesus und Judas, ihre Geschichte wird hier neu erzählt. „Es ist das Werk, auf das ich am meisten stolz bin“, sagt Tamir Ginz.
Für beide Produktionen wünscht man sich die bestmögliche Akustik im Deutschen Theater, denn die Musik kommt „vom Band“.
Carmina Burana, 30. Oktober, 19.30 Uhr, Matthäuspassion 2727, 1. und 2. November, 19.30 Uhr, Deutsches Theater, www.deutsches-theater.de
Skateboards und KI
Bei der Ruhrtriennale 2023 stand ihr die Jahrhunderthalle in Bochum zur Verfügung, jetzt verwandelt die dänische Choreografin Mette Ingvartsen die Münchner Muffathalle in einen „Skatepark“, so der Titel ihrer Performance. Aus der Compagnie wird hier die Community, wenn Ingvartsens feste Gruppe aus Tanz-Profis und Skaterinnen und Skater auf Akteure der lokalen Skater-Szene trifft. In der Begegnung zwischen Rampen und Podesten entstehen zwischen den Menschen auf Rollen Berührungspunkte. Artistik und Perfektion spielt bei diesem Jam von Tanz und urbane Straßenkultur natürlich mit, aber es geht um mehr als Coolness und Lifestyle.
Skatepark, 19. und 20. November, Einlass 20 Uhr, Muffathalle, www.muffatwerk.de
Münchens Freie Tanzszene ist auch sonst schwer aktiv: In der Reihe Side.kicks, ein flexibles Format aus Gastspielen, Workshops und Talks, geht es um „Perspektiven auf Tanz in der Peripherie“. Unter den Gästen, die von 14. bis 16. November im Schwere Reiter Stücke zeigen, ist beispielsweise Colette Sadler mit ihrer installativen Performance „ARK 1“. So der Name eines Raumschiffs, das durchs All irrt, an Bord eine einsame, humanoide künstliche Intelligenz, die die Erinnerungen an die längst untergegangenen Menschheit in sich trägt. Was wird bleiben?
Side.kicks: ARK 1, 14. bis 16. November, Schwere Reiter, Dachauer Straße 114a, www.schwerereiter.de
Vom Weltraum in den Raum an sich und damit zu Anna Konjetzky. Die Münchner Choreografin wird mit vollem Recht auch die „Architektin des Raums“ genannt. Jetzt geht es beim Tanz ja an sich um Körper im Raum, doch Konjetzky will bis in die letzte Konsequenz wissen, was das eigentlich heißt. Mit dem Gefühl, auf schwankenden Boden zu stehen, zu gehen, verlässt das Publikum wohl ihr Erfolgsstück „Chipping“, das vor zehn Jahren in den Kammerspielen uraufgeführt wurde. Ein Solo, geschrieben für Sahra Huby, die hier mit fünf wandernden Kuben interagiert, springt, wankt, fällt, tanzt. Bis zur Erschöpfung. Aus Anlass der Verleihung des Förderpreises Tanz 2024 der Landeshauptstadt an die großartige Tänzerin kehrt „Chipping“ nun am 5. November zurück ins Schwere Reiter.
Chipping, 5. November, 20 Uhr, Schwere Reiter, Dachauer Straße 114a, www.schwerereiter.de
Sie nannte sich Sent M’ahesa, geboren wurde sie unter dem Namen Else von Carlberg. Die aus Riga stammende Tänzerin erregte 1909 in München großes Aufsehen, als sie im Künstlerhaus ihr Soloprogramm „Altägyptische Tänze“ vorstellte. Berühmt wurde sie für ihren „Tanz der Isis“, jener altägyptischen Göttin, die oft mit ausgebreiteten Flügeln dargestellt ist. Im Staatlichen Museum Ägyptischer Kunst präsentiert der Verein „Dance Histories Munich“ am 15. November eine Neuinszenierung dieser Performance der frühen Münchner Tanzavantgarde, bei der es aber nicht um eine Rekonstruktion geht. Choreografin Brygida Ochaim stützt sich allein auf Fotografien, die Sent M’ahesa in unterschiedlichen Posen in ihrem Flügelgewand zeigen, sowie zeitgenössische Presseberichte. Das Tanzevent wird durch Vorträge ergänzt, in denen auch die Debatte um die Aneignung fremder Kulturen geführt wird.
Tanz der Isis, 15. November, 15.30 Uhr (für Familien), 18 Uhr, Staatliches Museum Ägyptischer Kunst, Gabelsbergerstraße 35, Anmeldung erforderlich, per Telefon: 089/28927626, E-Mail: buchungen@smaek.de, online www.smaek.de oder www.munich-dance-histories.de
Frida und die Königin der Nacht
Noch ein Blick auf die Tanzbühnen in Augsburg und Nürnberg: Am Staatstheater Augsburg widmet sich Chefchoreograf und Ballettdirektor Ricardo Fernando zum Saisonstart mit „Frida“ der Ikone der lateinamerikanischen Malerei. Man sollte wirklich mal ergründen, wie viele das schon vor ihm getan haben, womöglich ist Frida Kahlo die meist vertanzte Persönlichkeit der Welt. Womit sich die Frage stellt, ob Fernando, der schon ein Charlie-Chaplin-Porträt vorgelegt hat, dem Mythos Frida Kahlo noch Neues hinzuzufügen hat? Die Antwort fällt erstaunlich leicht: Ja. Geglückt! Hinfahren, ansehen und zurückkommen: beglückt!
Frida, 8. November, 19.30 Uhr, Staatstheater Augsburg, Martinipark, Infos zu weiteren Vorstellungen und Karten unter www.staatstheater-augsburg.de
Der Tod ist in der Kunst und im Leben Frida Kahlos allgegenwärtig, ein immerwährender El Día de los Muertos, jene Zeit um Allerheiligen herum, da sie in Mexiko die Toten feiern. Was uns nach Nürnberg bringt, wo sie ja bekanntlich ihren spanischen Tanzwunder-Mann Goyo Montero ziehen lassen müssen. Er wechselt zur Spielzeit 2025/26 nach Hannover, und Richard Siegal wird den Ballettdirektor-Job am Nürnberger Staatstheater übernehmen. Womöglich also wollte Montero mit seiner ersten Operninszenierung sich und dem Publikum schon mal ein Abschiedsgeschenk bereiten: Mozarts „Zauberflöte“ als fröhlicher Totentanz.
Die Zauberflöte, 10. November, 15.30 Uhr, Staatstheater Nürnberg, Infos zu weiteren Vorstellungen und Karten unter www.staatstheater-nuernberg.de