Soll man die Kirche im Dorf lassen? Das ist am nördlichen Stadtrand von München zur großen Frage geworden, die inzwischen kommunalpolitisches Reizthema ist. Denn nicht wenige Menschen fürchten, dass Feldmoching bald nicht mehr aussehen wird wie ein Dorf, in dem man die sprichwörtliche Kirche lassen kann. Zwar fangen die Felder bisher noch hinter der Kirche an, doch seit die Stadt überlegt, auf dem Acker ein riesiges Neubauviertel für mehrere Zehntausend Menschen zu bauen, ist die dörfliche Beschaulichkeit gestört. Eine ganze Reihe anderer Bauprojekte mit insgesamt 5500 neuen Wohnungen hat der Stadtrat bereits beschlossen: Bebaut werden die Felder an der Heidemannstraße und Lerchenauer Straße nördlich und südlich von Feldmoching, ein lang gezogenes Wohnviertel wird östlich der Gleise am Bahnhof Feldmoching entstehen, eine kompakte Wohnsiedlung im Eggarten und größere Nachverdichtungen von Wohnanlagen kommen auf das Hasenbergl und die Siedlung Ludwigsfeld zu. Während die einen fürchten, dass sie bald ihre Badeseen und ihre ohnehin vollen Straßen künftig mit Tausenden Zugereisten teilen müssen, fragen sich die anderen, ob sie sich nach der Nachverdichtung und Sanierung ihrer Wohnblocks die Mieten noch leisten können.
Das Thema wird auch die politische Diskussion in den nächsten Jahren beherrschen, denn es ist noch völlig unklar, ob und wie die Stadt die riesige Neubausiedlung auf 900 Hektar Feld angehen wird. Nachdem die Politiker von CSU und SPD im Rathaus eine geplante Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme (SEM) nach massivem Druck von Bürgern und Bodeneigentümern wieder zurückgenommen hatten, wird das Projekt nun unter dem Decknamen Kosmo weitergeführt. Das steht für "kooperatives Stadtentwicklungsmodell". Doch das ist auch schon das einzige, was darüber bekannt ist. Alles weitere will die Verwaltung erst nach der Wahl klären. Sie hält Kosmo dadurch aus dem Wahlkampf heraus - bisher mit Erfolg.
Die Entscheidungen für große Bauprojekte fallen im Stadtrat, nicht im Bezirksausschuss (BA). Trotzdem geraten vor allem die Stadtviertelpolitiker unter die Räder: Sie stehen zwischen den Entscheidungen ihrer Parteikollegen im Stadtrat und den aufgebrachten Bürgern, die ihre Wut regelmäßig bei lokalen Gremiensitzungen und Bürgerversammlungen entladen. Um diese Spannung weiß auch der amtierende Bezirksausschuss-Vorsitzende Markus Auerbach (SPD), auch wenn sie mitunter seinen Geduldsfaden überspannt. Doch statt sich zum Sprachrohr einer der beiden Seiten zu machen, agiert der Rechtsanwalt hinter den Kulissen: Er sucht den Kontakt zu Verantwortlichen in der Stadtverwaltung, Verkehrsplanern, bei ansässigen Firmen und Investoren, bringt kleine, aber konkrete Vorschläge ein. "Wir entscheiden nicht, wir können nur Tendenzen festigen", sagt Auerbach. Eine Tendenz allerdings, die nicht gegen Bebauung gerichtet ist. Denn für die örtliche SPD gilt das sozialdemokratische Diktum: Für günstigere Mieten braucht die Stadt mehr Wohnraum - auch auf den Feldern Feldmochings. Und so kann es durchaus passieren, dass Auerbach in einer BA-Sitzung noch kurz vor Mitternacht visionäre Pläne für neue Zentren am Stadtrand, eine oberirdische U-Bahn-Verbindung nach Karlsfeld oder die überregionale S-Bahn-Trasse erörtert. Diese Parteinahme für den Wohnungsbau dürfte wohl eher auf Sympathien bei der stummen Masse der Mieter stoßen als bei den Eigenheimbewohnern im Süden und Westen des Stadtbezirks. Sie wählen ohnehin eher schwarz. An Profil mangelt es der SPD im Stadtviertel also nicht. Wohl eher am positiven Image. Das hat die Partei auf der großen Bühne im Bundestag verspielt: Bei der Europawahl 2019 holte sie im Stadtbezirk gerade einmal elf Prozent.
Der Wachstumsdruck bereitet auch der CSU Probleme. Ihre lokale Wahlliste führt Rainer Großmann an, ein altgedienter Kommunalpolitiker. Der 76-Jährige sitzt im Bezirksrat von Oberbayern und hatte vor Auerbach den Vorsitz des Bezirksausschusses inne. In dieser Amtsperiode sitzt er als Stellvertreter neben ihm. Die CSU ist traditionell mit den Feldmochinger Landwirten und den Vereinen der Alteingesessenen verbunden, die am dörflichen Charakter der nördlichen Stadtteile hängen. Viele der an Ort und Stelle unbeliebten Bau-Entscheidungen hat die CSU im Rathaus allerdings mitgetragen. Unter dem massiven Druck der Anwohner ist sie dann ins Straucheln geraten. Daher wird es auch für die CSU im Stadtbezirk schwieriger, sich glaubwürdig als Bewahrer des Bestehenden und der Autofahrer zu profilieren, während die eigenen Stadträte eine massive Bebauung beschließen und im Stadtzentrum um die grüne Wählerschaft buhlen. Die Partei - bei der jüngsten BA-Wahl mit fast 46 Prozent stärkste Kraft - könnte daher unter der neuen Konkurrenz von der wachstumskritischen München-Liste leiden, die sich erst gegründet hat. Das hat sich bereits beim überraschenden Übertritt des früheren CSU-Fraktionssprechers Maximilian Bauer zur neuen Formation gezeigt. Die große Frage ist nun, ob die konservativen Wähler ihrer Partei die Treue halten oder Bauers Vorbild folgen. Oder ob sie sogar weiter nach rechts wandern und der AfD ihre Stimme geben, die sich bei der kommenden Wahl erstmals in den BA wählen lassen will. Bei Bundes-, Landtags und Europawahlen hat die AfD in den vergangenen sechs Jahren im Stadtbezirk durchgängig um die zehn Prozent geholt.
Als große Gewinner dürften sich die Grünen erweisen. Zwar schneidet die Partei in Feldmoching-Hasenbergl im stadtweiten Vergleich meist am schwächsten ab, so auch bei der Europawahl vergangenes Jahr. Doch da waren es immerhin 21 Prozent, womit die Grünen im Stadtbezirk trotzdem zweitstärkste Kraft waren und fast doppelt so viele Stimmen holten wie die SPD. Daraus erklärt sich auch das Selbstbewusstsein, mit dem Fraktionssprecherin Christine Lissner seither auftritt. Zwar kann sie sich auf der Ebene der technischen Fachkenntnis über den Stadtbezirk nicht mit den beiden Frontmännern von SPD und CSU messen, wirkt vielleicht gerade deshalb aber bürgernäher. So pflegen die Grünen neben ihren ökologischen Kernthemen wie Grünflächen, Fahrradwegen und Straßenbahnen im Norden auch ein ausgesprochen soziales Herz, das hat Lissner zuletzt immer wieder unter Beweis gestellt. Beim Thema Bauen könnte man die Position der Grünen im Viertel am ehesten als agnostisch bezeichnen: Aus sozialen Gründen sind sie für neuen Wohnungsbau, geben der Natur im Zweifel aber den Vorrang.
Diese Wahl wird anders als die vor sechs Jahren, so viel ist sicher. Standen sich damals nur zwei große Volksparteien mit ihren Juniorpartnern FDP (knapp vier Prozent) und Grüne (knapp 13 Prozent) gegenüber, so treten diesen März zusätzlich die München-Liste und die AfD an, die jeweils auf bis zu zehn Prozent hoffen könnten. Für Auerbach wird der BA-Vorsitz davon abhängen, ob die SPD überhaupt noch ihre traditionellen Stammwähler im Hasenbergl erreicht, oder andernfalls sogar zum Juniorpartner der Grünen schrumpft. Und das Ergebnis der CSU wird davon entschieden, ob die Wachstumsgegner wirklich so zahlreich sind oder bei den Versammlungen bloß am lautesten rufen. Kurz gesagt, diese Wahl hängt davon ab, ob die Wähler die Kirche im Dorf lassen - Und was das überhaupt noch ist, ein Dorf in München im Jahr 2020.
Die Spitzenkandidaten (soweit bekannt): CSU: 1. Rainer Großmann, 2. Bettina Obersojer, 3. Christian Zöller; SPD: 1. Markus Auerbach, 2. Gabriele Meissner, 3. Klaus Mai; Grüne: 1. Christine Lissner, 2. Hans Kübler, 3. Birgit Trautner; FDP: 1. Johann Hohenadl, 2. Birgit Hohenthaner, 3. Michael Hanuschke; AfD: 1. bis 3. Manfred Neudecker ; München-Liste: 1. Maximilian Bauer, 2. Dirk Höpner, 3. Monika Blick.