Mit dem Begriff "Ära" sollte man vorsichtig umgehen, schließlich begründet nicht jede Drei-Jahres-Station eines Fußballtrainers gleich eine solche. Bei der scheidenden Vorsitzenden des Bezirksausschuss Au-Haidhausen (BA) Adelheid Dietz-Will hingegen kommt man nicht umhin, von einer Ära zu sprechen. 40 Jahre prägte die Sozialdemokratin ihr Viertel, zunächst als Mitglied im Bezirksausschuss, seit 2000 als BA-Vorsitzende. Mit der Kommunalwahl am 15. März endet diese Ära.
Ihr Austritt aus der Politik fällt in eine Zeit, da sich eine prägende Entwicklung des fünften Stadtbezirks am Ostufer der Isar dem Ende neigt. Aus dem Scherbenviertel wurde in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr eines für Besserverdienende - inzwischen gerade mit Blick auf die neuen Wohnungen für Bestverdienende. Damit geht einher, das nun ein Milieu nach Haidhausen und in die Au strömt, das 1978, als Dietz-Will das erste Mal im Stadtteilgremium saß, wohl eher nicht ans Ostufer der Isar gezogen wäre.
Der fünfte Stadtbezirk ist damit eine Art Brennglas geworden für eine Frage, die sich zunehmend ganz München stellt. Wem gehört die Stadt? Und welche Auswirkungen hat der Zuzug und Milieuwechsel? Zum Beispiel entfremden sich die Alteingesessenen von ihrem Viertel. Dietz-Will sitzt heute - nach jahrzehntelangem politischem Engagement - in ihrem Büro an der Friedenstraße und antwortet mit einem gewichtigen und schnellen "Nein" auf die Frage, ob sie ihr Viertel nach all den Veränderungen eigentlich noch wiedererkenne.
Trotzdem: "Man ist für alle da", sagt Dietz-Will über ihr Verständnis als BA-Vorsitzende und der Rolle des Gremiums. Nur dieses "alle" habe sich in den vergangenen Jahren eben geändert. Auf Informationsveranstaltungen kämen weniger Leute als früher - die Bürgerversammlungen zur zweiten Stammstrecke einmal ausgenommen. Um den Austausch mit denjenigen, die von den politischen Entscheidungen direkt betroffen sind, also den Nachbarn, müssten sich ihre Nachfolger mehr bemühen. Denn "du bekommst viel mehr durchgesetzt, wenn die Bürger mitwirken". Wenn aber nicht mal 20 Anwohner einer Einladung folgen, wie an einem Maiabend vergangenes Jahr, als das Baureferat seine Pläne zur Neugestaltung des Johannisplatzes vorstellte, dann ist es schwer, über diese Bürgerbeteiligung eine handlungserzwingende Wucht zu erzeugen. Dazu war Haidhausen und die Au aber mal in der Lage - erinnert sich zumindest Dietz-Will.
"Krach machen", nennt sie das dann. Nur bei manchen Entwicklungen hat dieser "Krach" bedingt etwas bewirkt. Wie bei der Entwicklung der letzten großen Flächen im Stadtbezirk wie dem ehemaligen Paulaner-Gelände. Allein dort werden in den kommenden Jahren 3 500 Menschen wohnen, wo vor wenigen Jahren noch Bier gebraut wurde. Rechnet man die bald und in den vergangenen zehn Jahren neu hinzugezogenen Bewohner zusammen, kommt Dietz-Will auf um die 10 000. Ihr bleibt nur zu fragen: "Wie soll das geschafft werden? Ich weiß es nicht."
Denn auch die letzten Brachflächen sind inzwischen bebaut oder werden es bald. Das ehemalige Holzkontor an der Rosenheimer Straße ist längst einem Hotel- und Wohnkomplex gewichen. Auch für das Areal entlang der Orleansstraße, zwischen Ostbahnhof und Haidenauplatz, sind Wohnungen und ein Hotel vorgesehen. Dabei ist die Au und Haidhausen schon heute der Stadtbezirk Münchens, der am zweitdichtesten besiedelt ist. Konflikte um öffentliche Erholungsflächen gab es bereits in der Vergangenheit, sie dürften auch künftig das Viertel beschäftigen. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der Kampf der Stadtteilpolitiker um den Charakter des Kroneparks, gegen ein Lokal im Maxwerk und eine Baustellenzufahrt durch den Hypopark verstehen. Öffentliches Grün sei eines ihrer Hauptthemen gewesen, sagt Dietz-Will. Als Landschaftsarchitektin liegt ihr das Thema. Dass eben dafür in ihren Augen ein ganzheitliches Konzept für die anstehenden Neubauten fehle, "ärgert mich", sagt sie.
Auch Barbara Schaumberger, Fraktionssprecherin der CSU und Spitzenkandidatin, vermisst einen geweiteten Blick bei den vielen Baustellen im Viertel. Vor allem sieht sie drastische Probleme beim Verkehr. Zum Beispiel, wenn zugleich die Ludwigsbrücke einspurig und der Gasteig saniert wird, der zumindest nach Zeitplan bis Ende 2025 fertig sein soll. Hinzu kommt, dass die Deutsche Bahn 2028 die zweite Stammstrecke in Betrieb nehmen will. Zwar wird Haidhausen dank einer neuer Planung wohl von den schlimmsten Baustellenfolgen verschont bleiben, ganz unbemerkt wird der Milliardenbau aber nicht bleiben. Zwischen der teils gestiegenen Erwartungshaltung eines gehobeneren Milieus und den anstehenden Unannehmlichkeiten zu moderieren, dürfte eine große Herausforderung für den neu gewählten BA werden.
Ob dem weiterhin ein SPD-ler vorsteht, ist, vorsichtig ausgedrückt, fraglich. Schon nach der Kommunalwahl 2014 stellten die Grünen eigentlich die stärkste Fraktion. Ein Trend, der sich seither noch verstärkt hat, wie die Europawahl 2019 zeigte. Dort holten die Grünen mit 41,4 Prozent Werte einer Volkspartei, die SPD gerade einmal 11,2 Prozent. Jörg Spengler, Sprecher des Grünen-Ortsverbands Au-Haidhausen, kündigt an, bei ähnlichen Wahlerfolgen zunächst die "für uns ungute Konstellation überwinden" zu wollen, bei der die Grünen einem Bündnis aus CSU und SPD gegenübersitzen, obwohl sie die stärkste Fraktion stellen. Bei einem erneuten Wahlerfolg "streben wir auch nach dem Vorsitz", sagt Spengler.
Kommunalwahl in Au-Haidhausen:Wahres Lebensgefühl
Die Debatte um das Maxwerk zeigt, wofür die Parteien stehen
Die Entwicklung von einer SPD- zu einer Grünen-Hochburg ist die Folge des Strukturwandels im Viertel, der in den 1970er Jahren begann. Und der 2023, wenn die letzte Luxuswohnung auf dem ehemaligen Paulaner-Gelände bezogen sein soll, einen vorläufigen Höhepunkt erfährt. Dann wird der neue BA einen Spagat versuchen müssen. Einerseits steht die "Integration" der Neuhinzugezogenen in das rege Viertelleben an. Andererseits gibt es quer durch die Parteien das Ziel, jene zu schützen, die mit dem freidrehenden Wohnungsmarkt nicht mithalten können. Nur ist die Macht des BA da sehr begrenzt. Dafür bräuchte es Initiativen aus Stadtrat und Bundestag.
Wer die kommenden sechs Jahre im Stadtviertelgremium sitzt, wird exemplarisch für das boomende München vor allem die Folgen einer wachsenden, immer teureren Stadt bearbeiten: Verkehr, soziale Infrastruktur und das Bewahren des "Haidhausen-Charakters".
Die Spitzenkandidaten (soweit bekannt): SPD: 1. Nina Reitz, 2. Heinz-Peter Meyer, 3. Lena Sterzer. CSU: 1. Barbara Schaumberger, 2. Andreas Micksch, 3. Elisabeth von Soden-Fraunhofen. Grüne: 1. Ulrike Goldstein, 2. Jörg Spengler, 3. Christine Harttmann. Linke: 1. Brigitte Wolf, 2. Dominik Wetzel, 3. Jürgen Fischer. FW/ÖDP: 1.-2. Felix Pinkow-Margerie, 3. Benjamin Zilker.