Süddeutsche Zeitung

Ausstellung:Über den Zaun

Die Münchner Fotografin Christine Meder war in der Prager Botschaft, als Tausende DDR-Bürger dort Zuflucht suchten. Im Kunstpavillon des Alten Botanischen Gartens zeigt sie nun ihre Bilder jenes Ereignisses, das den Mauerfall vorwegnahm

Von Jutta Czeguhn

Die Fernsehbildmaschine surrt los im Kopf, schließlich war man damals ja gefühlt live dabei in jenem historischen Moment am 30. September 1989 kurz vor 19 Uhr. "Liebe Landsleute", sächselt Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon des Palais Lobkowicz, "wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ..." Der Rest des Satzes geht unter im Jubelgebrüll von 5000 DDR-Bürgern, die damals im Park der Prager Botschaft ausharrten. Eine dramatische Situation findet ein glückliches Ende. "Nein, so war das eben nicht!" Es ist, als würde Christine Meder energisch auf die Stopptaste drücken und den Film anhalten. "Nach dem Genscher-Auftritt ging es im Grunde erst richtig los", sagt die Münchner Fotografin. Sie muss es wissen, Anfang November '89 war sie im Palais auf dem Hradschin, wieder kletterten dort Tausende Ostdeutsche "über den Zaun". So heißt auch Meders Ausstellung zum 30. Jahrestag des Mauerfalls, die noch bis Sonntag, 27. Oktober, im Kunstpavillon im Alten Botanischen Garten zu sehen ist.

Christine Meder studiert damals an der Kunstakademie in München Malerei und Fotografie. "Komm sofort, ... wir sind erschöpft und in einem verzweifelten Zustand. Bring' deine Kamera mit", fleht Michael Steiner, ein Freund, am Telefon. Er ist zu dieser Zeit Presseattaché an der Botschaft und war einer von jenen Schattengestalten, die bei der Rede des Außenministers einen Monat zuvor auf dem Balkon standen. Meder packt fünf Schwarz-Weiß-Filme in ihre Fototasche und kommt drei Stunden später in der Hauptstadt der ČSSR an. Der Weg zur Botschaft auf dem Burgberg führt die 28-Jährige über die Karlsbrücke. Es ist kalt und nebelig. Im Nieselregen sind nur wenige Menschen unterwegs. Ein Mann im Trenchcoat hält den Schirm, eine Frau mit Kapuze hat sich bei ihm untergehakt. Es ist, als würde man ihre raschen Schritte auf dem nassen Katzenkopfpflaster klappern hören. Mit Tristesse und Schönheit hat Prag die Münchnerin damals empfangen. Das Schwarz-Weiß-Foto dieses Moments ist auch das Entree der Ausstellung. Es zeigt eine müde Stadt, die jedoch - auch - durch die Ereignisse im Palais Lobkowicz von Tag zu Tag mehr unter Spannung geriet.

Je näher Christine Meder der BRD-Botschaft kommt, desto surrealer wird die Szenerie. In den engen Gassen stehen Trabis, die zurückgelassen wurden, die Schlüssel stecken oft noch. Kinderwagen, Koffer säumen den Weg, die Habe von Menschen, die sich offensichtlich in großer Eile und Angst vor den tschechischen Milizionären entscheiden mussten, was sie mit sich über den hohen Zaun zerren. Zusammen mit einigen Journalisten darf Meder in die Botschaft, schnell löst sie sich von der Gruppe. "Ich benutzte meine kleine analoge Kamera, verdeckt unter meiner Jacke. Die Menschen, die ich fotografierte, sollten nicht erkennbar sein. Sie campierten in jeder Ecke des Palais und im Park, keiner wusste, wie viele es tatsächlich waren", erinnert sich die Künstlerin.

Die großformatigen Aufnahmen an den Wänden im Kunstpavillon sind von einer präzisen Unschärfe. Als hätte eine Überwachungskamera die Seiten gewechselt und dezent ihre Brille vom Auge genommen. Wenn Christine Meder zumeist heimlich fotografiert hat, dann, um die Geflüchteten nicht noch mehr zu beunruhigen und ihre Identität nicht preiszugeben. Schließlich wusste niemand im Botschaftsgebäude, wie die Sache ausgehen würde. Die verwischten Oberflächen, verwackelten Konturen und verzerrten Motive von Meders Aufnahmen sind jedoch, das ist der Fotografin wichtig, auch eine künstlerische Entscheidung gewesen. Da sind Einflüsse eines Gerhard Richter und seiner verschwommenen Bildästhetik erkennbar. Vor allem aber Meders malerischer Blick, den sie heute noch als zentral in ihrer Arbeit als Fotografin empfindet.

So sind die Aufnahmen bei all ihrer Unschärfe von einer dokumentarischen Unmissverständlichkeit und Unbestechlichkeit. Gerade weil sie vom Betrachter entschlüsselt werden wollen und durch ihre gesteigerte Atmosphäre in den Bann ziehen: Wie eine ephemere Madonnen-Erscheinung wirkt eine Frau, die im schwachen Licht einer Taschenlampe über dem Botschaftszaun schwebt. Manchmal bekommen Meders Aufnahmen durch die Bewegungsunschärfe eine geradezu filmhafte Qualität, und man kann eine Gestalt nach der anderen über die Barriere klettern sehen. Ihre Panik überträgt sich, aber auch die große Erschöpfung und Ruhe der Menschen, die im Inneren auf den herrschaftlichen Treppen kauern. In einem sanften Licht scheint alles miteinander verschmolzen zu sein, das alte Palais lässt die Invasion geduldig über sich ergehen.

Wieder zurück in München, hat Christine Meder ihre Filme entwickelt und dann in einer Schublade verstaut. "Es vergingen neun Jahre, bis ich sie ... mit ins Fotolabor nahm. Dort entdecke ich die Qualität dieser Bilder", erzählt sie. Und ihre Bedeutung als zeitgeschichtliches Dokument. "Die Mauer ist in Warschau, in Budapest und in Prag gefallen. Und zwar vor dem 9. November 1989. Was in Berlin fiel, war nur noch eine sturmreife Attrappe", hat ihr Freund Michael Steiner, heute Botschafter a. D., im Katalog geschrieben, der jetzt zur Ausstellung erschienen ist. Meder hat dieses Buch "all jenen Menschen gewidmet, die ihre Heimat verlassen müssen und auf der Flucht sind". Vom Originalzaun ist heute nur noch ein Teilstück übrig, das im zeitgeschichtlichen Forum Leipzig ausgestellt wird. Der Zaun, der nun die Botschaft der Bundesrepublik in Prag abriegelt, ist oben wehrhaft nach außen gebogen. "Ihn könnte heute wohl niemand mehr überwinden", sagt Christine Meder.

"Über den Zaun. Prag im Herbst 1989", Fotografien von Christine Meder, Kunstpavillon im Alten Botanischen Garten, Sophienstraße 7, bis Sonntag, 27. Oktober. Öffnungszeiten: Samstag von 13 bis 19 Uhr, Sonntag von 11 bis 17 Uhr.

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Quelle:
SZ vom 26.10.2019
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