Schon auf der Fahrt vom Bahnhof zum Sanatorium, wo Hans Castorp seinen lungenkranken Vetter Joachim besucht, sieht er das flache, geschweifte Fläschchen aus blauem Glas mit Metallverschluss erstmals. Joachim zieht es nur halb heraus und lässt es schnell wieder in der Seitentasche seines Mantels verschwinden: "Das haben die meisten von uns hier oben", sagte er, "es hat auch einen Namen bei uns, so einen Spitznamen, ganz fidel." Erst später erfährt Hans, wie der nur etwa sieben Zentimeter hohe Taschenspucknapf heißt: "Blauer Heinrich". Tatsächlich war das blaue Sputumgefäß zu jener Zeit für Lungenkranke eine große Hilfe. Dank Thomas Manns Roman "Der Zauberberg erlangte es auch eine gewisse Berühmtheit. Doch in Zeiten, in denen sich kaum jemand noch über Tuberkulose Gedanken machen muss, ist auch der "Blaue Heinrich" in Vergessenheit geraten.
Nicht in Vergessenheit geraten hingegen sind im Medizinhistorischen Museum Ingolstadt all die übertragbaren Krankheiten, die die Menschheit im Laufe der Jahrhunderte heimsuchten. Denn auch wenn man nun ständig hört, so etwas wie die Corona-Pandemie habe es noch nie gegeben, so haben in der Vergangenheit allerlei Seuchen Tausende, ja Millionen Menschen das Leben gekostet. So soll die Pest im 14. Jahrhundert etwa 25 Millionen Opfer gefordert haben. Und etwa doppelt so viele die Spanische Grippe Anfang des 20. Jahrhunderts.
Das Medizinhistorische Museum Ingolstadt verfügt über zahlreiche Objekte und Abbildungen, die zeigen, wie die Menschen versuchten, sich gegen Pest, Lepra und Cholera, die Spanische Grippe, Polio, Aids und Ebola zu schützen und zur Wehr zu setzen. Marion Ruisinger, Leiterin des Museums, findet es wichtig, in diesen Zeiten Stellung zu beziehen. Sie empfiehlt aber angesichts der historischen Erfahrung auch, ein wenig gelassen zu bleiben.
Seit das Museum wegen der aktuellen Corona-Pandemie wie alle Ausstellungshäuser geschlossen hat, stellt es unter dem Link "Covid-19 & History" auf der eigenen Website sowie unter dem gleichnamigen Hashtag auf Instagram täglich ein Objekt vor und erzählt die Geschichte über Herkunft und Verwendung, aber auch Irrungen und Wirrungen rund um die Seuchen-Objekte. 13 davon haben Marion Ruisinger aus Ingolstadt sowie ihre Kollegen aus Münster, Marburg, Heidelberg und Erlangen auf diese Weise bislang vorgestellt.
Eines der bekanntesten Objekte im Ingolstädter Museum ist die "Eiserne Lunge" zur Aufrechterhaltung der Atmung bei Kindern mit Polio. Das in den Fünfzigerjahren zu Zeiten des in Europa und den USA grassierenden Polio-Virus entwickelte Behandlungsinstrument scheint heute Welten von den modernen Beatmungsgeräten entfernt zu sein. Seine Funktionsweise war auch eine etwas andere. Dennoch, in Zeiten, da auf der ganzen Welt Beatmungsgeräte benötigt werden und allenthalben fehlen, ist es interessant, etwas über den Vorläufer zu erfahren.
Gegen den "Schwarzen Tod" sollte die Pestarztmaske schützen,
Tuberkulosekranke spuckten in den "Blauen Heinrich" ...
... und wie Quarantäne-Chirurgen in Marseille sich kleideten, zeigt ein kolorierter Kupferstich aus dem 19. Jahrhundert.
Neben Objekten präsentiert die Online-Schau "Covid-19 & History" auch Dokumente wie ein Zeugnis der Stadt Nürnberg, das den Warenverkehr in Zeiten der Pest regelte. Anhand eines "Cholerabriefs" wird erläutert, wie Papierdokumente als Hygienemaßnahme bei Epidemien geräuchert wurden. Ein Holzschnitt zeigt die Darstellung einer Lepraschau aus dem Jahr 1517, wodurch Kranke identifiziert und unter Quarantäne gestellt wurden. Und auf einer Farblithografie ist die Gewinnung von Pferdeserum als Heilmittel gegen Diphtherie Ende des 19. Jahrhunderts dargestellt. Die damals neu entwickelte Blutserumtherapie brachte seinem Erfinder, Emil von Behring, 1901 den erstmals vergebenen Nobelpreis für Medizin ein, schreibt die Autorin Ulrike Enke aus Marburg.
Marion Ruisingers Forschungen haben übrigens auch ergeben, das die weithin bekannte Pestmaske mit dem absurd langen Vogelschnabel zahlreiche Fragen aufwirft. So schreibt Ruisinger im entsprechenden Eintrag bei "Covid-19 & History": "Es gibt keinen Beleg dafür, dass diese Art von Schutzkleidung bei der großen Pestepidemie des 14. Jahrhunderts, dem ,schwarzen Tod' verwendet wurde. Selbst bei den vielen Pestausbrüchen zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges wird sie an keiner Stelle erwähnt. Erst bei der Pest von Rom im Jahr 1656 taucht sie in den Quellen auf, und später auch bei der Pest von Marseille 1720 - 1723." Dass die Maske in Deutschland im Nachhinein dennoch so bekannt wurde, hat einen auch kulturhistorischen Grund: Mit Hilfe der vor allem in Nürnberg und Augsburg vielfach gedruckten Einblattholzschnitte machte man sich über die "merkwürdigen Gebräuche der ausländischen Ärzte" lustig.
Ob das Objekt im Ingolstädter Museum also tatsächlich jemals einen medizinischen Zweck erfüllte, ist zweifelhaft. Marion Ruisinger will das in einer Ausstellung im Medizinhistorischen Museum Ingolstadt im September klären. Dann, so hofft sie, auch wieder vor Ort und ganz analog.