Süddeutsche Zeitung

Ausstellung:Neue Welten

Das Haus der Kunst zeigt Arbeiten aus dem Archiv des Kunstpreises Euward. Hier wird deutlich, zu welch kreativer Kraft Künstler mit kognitiven Einschränkungen fähig sind

Von Franziska Herrmann

Als Michael Golz seine akribisch gezeichnete und aus einzelnen Teilen zusammengesetzte Landkarte, das erste Mal komplett ausbreitete, war das Kunstwerk 200 Quadratmeter groß. "Athosland", so heißt der imaginäre Ort zwischen Utopie und Wirklichkeit, Anarchie und alternativer Lebensform. "Es ist ein fruchtbares, helles, freies und großes Land in dem man realen Personen und fiktiven Wesen begegnen, von schweren Träumen erlöst und Verstorbene wiedersehen kann." Seit 46 Jahren arbeitet der Künstler und leidenschaftliche Wanderer an seinem Universum. 2018 erhielt er für sein Lebenswerk den "Euward Kunstpreis", den ersten Kunstpreis für Menschen mit kognitiven Einschränkungen. Begleitend zeigt nun das Haus der Kunst das Archiv des Preises.

Zu sehen sind die Kunstwerke in einer Videoprojektion, daneben Kataloge, Presseartikel und kleine Porträts. Krankengeschichten wird man hier nicht finden, denn es geht um die Kunst, nicht um einen sozialen Kontext. "Wir möchten die Leistung der Künstler weiter ins öffentliche Bewusstsein rücken" erzählt der Kunsthistoriker und Kunstpädagoge Klaus Mecherlein von der Münchner Augustinum Stiftung, die den Preis seit 2000 verleiht. Bis in die 70er-Jahre galt geistige Behinderung als unheilbare Krankheit. Menschen mit dieser Zuschreibung lebten in Einrichtungen und konnten nur begrenzt ihrem Wunsch nach künstlerischem Ausdruck nachgehen.

Erstmals erkannte unter anderem der Psychiater und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn die künstlerische Kraft dieser Arbeiten. Seine Sammlung umfasste 1921 bereits über 5000 Werke und inspirierte Maler wie Paul Klee oder Salvador Dalí. Der französische Künstler Jean Dubuffet baute in den 40er-Jahren dann eine umfangreiche Sammlung auf, die "Collection de l'Art brut", die heute in Lausanne verwaltet wird. Trotz seines Interesses an dieser Kunst stellte er sie nicht mit seiner eigenen Kunst gleich. Inzwischen ist die sogenannte "Art Brut" für den Kunstmarkt interessant geworden, spätestens seit Joseph Beuys. Der sagte "Jeder Mensch ist ein Künstler", und stellte damit indirekt die Frage, wer überhaupt definiert, wer ein Künstler sei oder von wann an man als Künstler gelte. "Es geht hier auch um einen erweiterten Kunstbegriff und darum, was wie viel Diversität unsere Kultur eigentlich zulässt. Wenn der Besucher sich diese Fragen stellt, haben wir viel erreicht", sagt Sabine Brantl, die Kuratorin der Ausstellung. In der Videoprojektion im Ausstellungsraum sieht man neben Golz weitere Preisträger der vergangenen Jahre. Ein Acrylgemälde zeigt das berühmte "Abbey Road"-Cover der Beatles. Die Band überquert in einen Zebrastreifen, Gert Savelberg ergänzt die vier Männer jeweils um einen weißen Blumenstrauß in der Hand, und John Lennon setzt er eine Tüte über den Kopf - schreiten sie da etwa zu seiner Beerdigung? Ein anderes Bild zeigt dichtes seismografisches Gekrickel in Kreisform und in dessen Mitte eine kleine Sonnenbrille - ein augenzwinkernder Kommentar zur Unruhe der Welt?

Viele der Arbeiten weisen eine große Liebe zum Detail auf oder haben ein starkes Konzept. Da werden Sprachen erfunden, oder es sind umfangreiche seriell angelegte Arbeiten. 341 Bewerbungen gab es in diesem Jahr. Am 26. September werden die Preisträger von der Jury bekannt gegeben. Im Frühling 2021 ist die Ausstellung dann zu sehen. An diesem Samstag findet eine Lesung zu Michael Goltz "Athosland" mit den Schauspielern Luisa Wölisch und Benito Bause statt. Ob der Künstler selbst auch da sein wird, ist noch nicht klar, aktuell ist er lieber sehr vorsichtig unterwegs.

Archives in Residence - Euward Archiv, Haus der Kunst, Mo, Mi, So 10-18 Uhr /Do 10-22 Uhr, Fr/Sa 10-20h

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Quelle:
SZ vom 19.09.2020
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