Neues Ausstellungsformat:Maria Magdalenas Tränen

Neues Ausstellungsformat: Ein Meisterwerk, das lange im Depot schlummerte: Nach aufwendiger Restaurierung hat Raffaellino del Garbos "Beweinung Christi" (um 1500) seine ausgewogene, beeindruckende Farbigkeit zurückerhalten.

Ein Meisterwerk, das lange im Depot schlummerte: Nach aufwendiger Restaurierung hat Raffaellino del Garbos "Beweinung Christi" (um 1500) seine ausgewogene, beeindruckende Farbigkeit zurückerhalten.

(Foto: Sibylle Forster/ Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München)

Mit dem Projekt "All eyes on" will die Alte Pinakothek das Spotlight auf Meisterwerke richten, die unbedingt mehr Beachtung verdienen. Erster Solist der Reihe ist Renaissance-Maler Raffaellino del Garbo mit seiner "Beweinung Christi".

Von Jutta Czeguhn, München

Die zarten Tränen auf der Wange Maria Magdalenas, die in stummem Schmerz die Wundmale an Jesu Füßen betrachtet, hätte man sie bemerkt? Oder die Erdspalte, die sich da jäh auftut hinter der Gottesmutter? Sehr wahrscheinlich wäre man wohl achtlos an diesem Gemälde vorbeigelaufen, an Raffaellino del Garbos "Beweinung Christi", entstanden in Florenz um das Jahr 1500. Denn es hängt im Galerie-Saal IV der Alten Pinakothek zusammen mit den Werken der größten Florentiner Meister, die es nun mal gewohnt sind, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen: Botticelli, Leonardo da Vinci, Pietro Perugino, Raffael. In diesem hochkompetitiven Umfeld der Renaissance-Superstars - welche Chance, gesehen zu werden, hat da einer wie Raffaellino, der kleine Raffael? Aktuell: jede! Mit ihrem neuen Präsentationsformat "All eyes on" lenken die Alte und die Neue Pinakothek künftig das Spotlight auf Werke wie dieses aus ihren beachtlichen Sammlungen. Werke, die mehr als 45 Sekunden unserer Lebenszeit verdient haben.

So viel in etwa beträgt durchschnittlich die maximale Betrachtungsdauer für ein Kunstwerk bei einem normalen Museumsbesuch. Was natürlich auch heißt, dass einige Gemälde viel davon abbekommen und andere gar nichts. Das haben Wissenschaftler herausgefunden, aber irgendwie wird das jeder bestätigen können; einmal drin in den Uffizien oder im Louvre, will man wenigstens alle Säle mit den großen Namen abhaken, und sei's im Sprint. Stress pur, vieles bleibt da links liegen. In der Alten Pinakothek stellen sie sich diesem, nur auf Superlative fokussierten Kulturkonsumismus nun also buchstäblich in den Weg. Dezent, ruhig und einladend haben Sammlungsdirektor Andreas Schumacher und sein Team eine besondere Stolperfalle vor dem Raffaellino aufgebaut. Doch keine Angst, man landet weich, kann sich auf Sitzmöbeln niederlassen und sich versenken in dieses Andachtsbild.

So wie es sehr wahrscheinlich die ursprünglichen Besitzer des Gemäldes getan haben, in ihrer Familienkapellen-Nische der florentinischen Klosterkirche S. Spirito. Die Brüder Bernardo und Filippo Nasi hatten die Beweinung als eine von drei Altartafeln bei Raffaellino (1466/70-1524) in Auftrag gegeben. Warum sie in dieser superreichen, dekadenten, mächtigen Stadt, in der es vor Künstlerpersönlichkeiten nur so wimmelte, gerade ihn auswählten, welcher Platz Raffaellino zukommt unter den Meistern der Renaissance-Malerei, wie die Querverbindungen unter den Werkstätten verlaufen sind, wer wen beeinflusst, hinter sich gelassen, ausgestochen hat. Und vor allem, wie dieses Meisterwerk, denn um nichts anderes handelt es sich, in die Münchner Sammlung gelangte - all das wird erzählt bei "All eyes on".

Neues Ausstellungsformat: Tränen und stille Trauer: Maria Magdalena begegnet man in Raffaellino del Garbos "Beweinung Christi" über die Wundmale des Gekreuzigten gebeugt, eine meditative Haltung nach dem Vorbild der Pietà-Tafeln Peruginos.

Tränen und stille Trauer: Maria Magdalena begegnet man in Raffaellino del Garbos "Beweinung Christi" über die Wundmale des Gekreuzigten gebeugt, eine meditative Haltung nach dem Vorbild der Pietà-Tafeln Peruginos.

(Foto: Sibylle Forster/Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München)

Der sammelwütige Ludwig I. hat das Bild den Preußen weggeschnappt

Mit der Stuhlecke, die zwei mit Infotexten versehene Stelen vom übrigen Raum abschirmen, ist selbst eine Art Altar-Nische geschaffen, in der sich die Alte Pinakothek nun ins Herz ihres 2017 abgeschlossenen, großen Forschungsprojekts zur Florentiner Malerei blicken lässt. Und die Erinnerung wachruft an die großartige Ausstellung von 2018, als Kurator Andreas Schumacher im Münchner Museum "Florenz und seine Maler" versammelte. Die Voruntersuchungen für die Restaurierung von Raffaellinos "Beweinung" waren damals bereits angelaufen und wurden in der Schau dokumentiert. Das Gemälde, welches der badische Kunsthändler Johann Baptist Metzger für den sammelwütigen Ludwig I. in Florenz aufgetan und dem ebenfalls interessierten Preußischen Hof 1829 vor der Nase wegschnappt hatte, musste aufgrund seines schlechten Zustandes lange im Depot lagern. Mittlerweile aber strahlt es wieder, Restauratorin Carolin Vogt-Apitz hat sich durch die Lebensgeschichte des Gemäldes gearbeitet, durch die Firnislagen vergangener Jahrhunderte, und dem Bild seine Farbigkeit zurückgegeben.

Neues Ausstellungsformat: Die Realität des Todes: Raffaellino zeigt Christus bleich, leichenstarr ausgestreckt und mit offenem Mund.

Die Realität des Todes: Raffaellino zeigt Christus bleich, leichenstarr ausgestreckt und mit offenem Mund.

(Foto: Sibylle Forster/Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München)

Farbe ist ein zentrales Thema dieser "All Eyes on"-Präsentation. Man kann sich einer sehr reizvollen Sehschule und Stilkunde hingeben, denn Raffaellinos "Beweinung" zur Seite gestellt ist eine weitere, berühmtere Version dieses damals sehr beliebten Andachtsmotivs: die Passionsmeditation Sandro Botticellis. Entstanden zwischen 1490 und 1495, gehört diese "Pietà" ebenfalls zur Sammlung der Alten Pinakothek und war, frisch restauriert, schon in der 2018er Florenz-Schau zu bewundern. Zwar wird auf beiden Gemälden das zwischen Kreuzabnahme und Grablegung angesiedelte Geschehen erzählt, mit der Gottesmutter und dem toten Christus im Zentrum, doch sticht sofort ins Auge, wie unterschiedlich die Zeitgenossen ans Werk gegangen sind.

Drama bei Botticelli, der nackte Jesus-Körper wirkt lebendig, scheint von Marias Knien herab aus dem Bild zu gleiten. Knallig, flächig die Farben, Johannes in sattem Orange, Petrus am rechten Bildrand in gleißendem Gelb. Alles irgendwie sehr laut für ein Passions-Sujet. Bei Raffaellino hingegen herrscht harmonische, wenn auch kraftvolle Farbigkeit, etwa im Blauviolett von Marias Mantel. Selbst das Grau im Umhang des Hl. Jakobus tritt hier als elegantes Silber auf. Auf Botticellis Theatralik antwortet Raffaellino mit Ruhe und Realismus: Der geschundene Leib des Gekreuzigten liegt horizontal, schon in Leichenstarre, sein Mund ist leicht geöffnet. Die Figuren ringsum verharren in stiller Andachtshaltung, der "maniera devota". Ganz im Stile von Raffaellinos Vorbild Perugino, zu dessen "Vision des hl. Bernhards" man nur kurz den Saal kreuzen muss.

Wer sich also von "All eyes on" in Saal IV ausbremsen lässt, erfährt vieles, das über das Raffaellino-Gemälde hinausgeht. Nicht nur die kurzen Texte auf den beiden Stelen helfen dabei, dort gibt es QR-Codes, die zu detaillierteren Schilderungen auf der Website der Alten Pinakothek leiten. Auch die Audioguides und die Führungen werden das neue Präsentationsformat aufnehmen, das künftig nicht nur Werke oder Werkgruppen der Sammlung spoilern wird, auch Neuerwerbungen oder Leihgaben werden Auftritte haben. Nächster Solist von "All eyes on" wird Ende September Hendrick ter Brugghens Bild "Der Zecher" (1627) sein, dessen rote Nase nach der Restaurierung nun wieder weinselig glüht.

All Eyes on: Die neue Kraft der Farben - Raffaellino del Garbos "Die Beweinung Christi" aus Santo Spirito in Florenz, Alte Pinakothek, bis 24.7., www.pinakothek.de

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