Die Frage der passenden Berufswahl treibt seit jeher junge Menschen (und wohl auch ihre Eltern) um. Heute führt der Weg ins Berufsinformationszentrum, um 1773 griff man gerne zu Peter Nathanael Sprengels "Handwerke und Künste in Tabellen", die eine seinerzeit beliebte Sammlung von Berufsdarstellungen wie Buchbinder, Hutmacher, Glaser, Tischler, Töpfer, Brunnenmacher, Bäcker, Maurer, Böttger, Kürschner, Drechsler, Goldschläger und Silberdrahtzieher enthielt. Weibliche Berufsdarstellungen finden sich darin auch, beispielsweise die der "Stickerin": "Hier seht ihr Amalie an dem Stickrahmen mit einer Stickerei beschäftigt. Sie arbeitet mit dem Stickhäkchen, das oben besonders abgebildet ist. Vor ihr steht auf einer Staffelei das Gemählde, das sie abbilden will. Auf dem runden Tischlein neben ihr liegen Zwirn oder Seidenröllchen, wovon ihr oben wieder eines besonders vorgestellt sehet", schreibt der Autor. Auf der dazugehörigen Kupfertafel trägt Amalie ein züchtig gebundenes weißes Häubchen und ein knöchellanges blaues Kleid.
Über Genderstereotypen und weibliche Rollenzuschreibungen im 18. Jahrhundert ließe sich anhand von "Amalie" sicherlich viel diskutieren. Ein Beleg dafür, dass diese und andere Bücher in der neuen Ausstellung "Ich weiß etwas, was du nicht weißt! - Weltwissen in Kinder- und Jugendsachbüchern aus fünf Jahrhunderten" in der Internationalen Jugendbibliothek spannende Beiträge zur Historie von Bildung und Erziehung junger Menschen liefert.
1330 seltene historische Kinder-Sachbücher aus deutschen Verlagen von 1550 bis 1900 hat der Unternehmer Werner Ziesel in den vergangenen Jahrzehnten zusammengetragen, die Werke behandeln Menschen, Tiere, Pflanzen, Technik oder Astronomie. Seine Sammlung hat er der IJB vermacht, auch wenn die Staatsbibliothek in Berlin Interesse bekundet hatte. "Aber ich wollte, dass diese Sammlung in Bayern verbleibt", sagt Ziesel bei einem Rundgang in der Ausstellung. Rund 50 Werke aus seiner Sammlung repräsentieren hier das Weltwissen, das Erwachsene seinerzeit Kindern vermitteln wollten. Sie tragen erhellende Einsichten bei nicht nur zu patriarchalen Familienkonstrukten, sondern auch zum kolonialistischen Blick auf fremde Kulturen in außereuropäischen Erdteilen im 18. und 19. Jahrhundert. Beispielsweise in Daniel Schäfers "Weltumsegler", einer fünfbändigen "Reise durch alle fünf Theile der Erde. Zum Selbstunterricht der Jugend" (1801-1808).
Illustriert sind die Werke unter anderem von bekannten Größen wie Ludwig Bechstein, Wilhelm Busch oder Franz Graf von Pocci. Viele enthalten auch wunderschöne handkolorierte Kupferstiche. "Es waren große Meister ihrer Zunft wie der bayerische Kupferstecher Johann Wilhelm Windter, die sich nicht zu schade waren, auch für die Kinder- und Jugendbücher tätig zu sein", begeistert sich Ziesel bei einem Rundgang in der Ausstellung. "Schlechte Buchhändler haben die Seiten mit den kostbaren Kupferstichen auch schon mal herausgerissen und einzeln verkauft, aber hier sind die Bücher noch im Originalzustand", betont er mit spürbarem Stolz.
Dass die Bücher für Kinderhände bestimmt waren, belegen da und dort Gebrauchsspuren: Da hat jemand mit einem Stift einen Strich quer über die Seite gezogen oder Fingerflecken beim Umblättern hinterlassen. "Wären sie makellos, würde es bedeuten, dass dieses Buch nie geliebt wurde", sagt Ziesel und schmunzelt. Geliebt wurden die kleinen Buch-Kunstwerke sicherlich. Nur ein oder zwei Bücher für Kinder gab es damals in vielen Familien, und die wurden entsprechend "gehegt und gepflegt", sagt Ziesel. Er stammt aus einer einfachen Eisenbahnerfamilie, zum Vorlesen, sagt er, blieb seinen Eltern keine Zeit, "die mussten Kohlen schleppen". Aber als ein alter Onkel im Haus aufgenommen wurde, brachte der ein großes Märchenbuch mit. "Und aus dem las er mir und meinen fünf Geschwistern jeden Abend vor." Die Liebe zu Büchern war entfacht.
Leider sei es nicht ganz einfach, Bücher auszustellen, bedauert Ziesel. "Jedes Buch in der Vitrine kann man nur auf einer Seite aufschlagen." Schwungvoll zieht er die Schubladen unter den Vitrinen auf, um auf weitere Buch-Schätze hinzuweisen. Das können ihm die Besucher künftig nachmachen. "Die sehr seltenen Bücher sollen zwar vor Licht geschützt sein. Trotzdem ist das Aufziehen der Schubladen erlaubt", sagt Christiane Raabe, die Leiterin der IJB. Sie ist fasziniert vom additiven Prinzip der "Wunderkammer", das die von Jutta Reusch kuratierte Ausstellung auf drei Ebenen bedient: Da sind zum einen die historischen Ausgaben der Bilder-Sachbücher, die mit aktuellen Sach-Bilder-Büchern zusammenspielen. Und da sind die Realien, vom Riesen-Hummer über einen winzigen Alligator bis zur kleinen Rechenmaschine, die "wir selbst ertrödelt haben", so Raabe. Ziesel sei ein "einzigartiger Sammlertyp", erklärt Raabe. Kein vergeistigter, bibliophiler Wissenschaftler, sondern ein sehr sozial denkender Macher. Der sich selbst übrigens als "Jäger und Sammler" charakterisiert. "Mich interessiert die Seltenheit; wenn ein Buch fünf oder zehn Mal vorhanden ist, kaufe ich es nicht", sagt Ziesel. "Er sammelt Trophäen", sagt Raabe. Ein eigenwilliges Prinzip, das die Sammlung umso kostbarer macht für die IJB.
"Ich weiß etwas, was du nicht weißt!", Weltwissen in Kinder- und Jugendsachbüchern aus fünf Jahrhunderten, Internationale Jugendbibliothek , Schloss Blutenburg