Auf den ersten Blick könnte das Foto am Flughafen aufgenommen worden sein. In der Mitte ein Gepäckwagen, mit Koffer und Reisetasche, daneben eine Frau, die sich von einem Mann verabschiedet. Im Hintergrund vertreibt sich ein spielendes Kind die Wartezeit. "Muki" steht auf dem Gepäckwagen, die Abkürzung steht für Mutter-Kind-Abteilung, und die gehört zur Justizvollzugsanstalt Stadelheim. Die Frau auf dem Bild checkt gerade im Gefängnis ein.
Vor einigen Jahren erfuhr der Münchner Fotojournalist Erol Gurian über einen befreundeten Gefängnispsychologen zum ersten Mal von der Mutter-Kind-Abteilung. "Das fand ich interessant", sagt Gurian, "Kinder im Gefängnis, wie geht denn das?" Sein Fotografeninstinkt war geweckt, und schließlich durfte er sich die Abteilung ansehen, erst ohne Kamera, später mit. Schon früh war da die Idee, ein Langzeitprojekt daraus zu machen. Doch er war skeptisch, was daraus werden würde. Auch weil er keine Gesichter fotografieren durfte, wegen der Auswirkungen, die das nach der Entlassung auf das weitere Leben der Gefangenen haben könnte. Wie sollte er also Geschichten erzählen, wie sollte er Emotionen transportieren?
Es ist ihm gelungen. Nach seinem ersten Besuch ist er über die vergangenen drei Jahre etwa ein halbes Dutzend Mal dort gewesen. Hat die Sicherheitsschleuse und die vielen verschlossenen Türen passiert, ist umhergestreift, immer begleitet von einer Beamtin. Alle inhaftierten Frauen erklärten sich bereit, sich von der Kamera begleiten zu lassen. Der Fotograf war eine willkommene Abwechslung im Haftalltag, auch weil die Frauen sonst eher selten mit Männern in Kontakt kommen. "Die Besuche waren für sie auch eine besondere Form der Aufmerksamkeit", sagt die Sozialpädagogin, die die Mutter-Kind-Abteilung leitet. Die Frauen seien in gewisser Weise stolz gewesen, für dieses Projekt ihre Kinder präsentieren zu können.
Seit neun Jahren gibt es in Stadelheim diesen besonderen Bereich im geschlossenen Vollzug, er bietet Platz für zehn Frauen und 14 Kinder. "Straffälligkeit beeinträchtigt nicht automatisch die Erziehungsfähigkeit", sagt die Abteilungsleiterin. Um eine Trennung zu vermeiden, gebe man deshalb geeigneten Müttern die Möglichkeit, ihre Kleinkinder während ihrer Haftzeit weiter zu betreuen. Bei der Prüfung und Entscheidung kooperiert das Gefängnis eng mit dem Jugendamt. Ob eine Frau für die "Muki" in Frage kommt, hängt auch von ihrem Strafmaß ab. Die Kinder dürfen zum Zeitpunkt der Entlassung nicht älter als dreieinhalb Jahre sein. Bis zu diesem Alter, da sind sich viele Fachleute einig, schränkt der geschlossene Vollzug in der Regel die Entfaltungsmöglichkeiten des Kindes nicht ein und beeinträchtigt somit nicht die altersentsprechende Entwicklung. Danach würde es schwierig.
Zurzeit sind fünf verurteilte Frauen mit ihren Kindern in der Abteilung untergebracht. Vorwiegend sind sie wegen Betrugsdelikten in Haft. Bei Gewalttäterinnen ist die Aufnahme fast immer ausgeschlossen; Mörderinnen kommen ohnehin nicht in Frage, weil das Strafmaß viel zu hoch ist. Während ihrer Haftzeit lernen die Frauen unter anderem, ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. "Wir sagen ihnen vorher ganz klar, welche Erwartungen mit der Aufnahme in die Mutter-Kind-Abteilung verbunden sind", erklärt die Leiterin. "Der Fokus liegt immer auf dem Wohl der Kinder."
Der Tagesablauf ist strikt, und die Tatsache, dass viele Ablenkungen den Frauen nicht zur Verfügung stehen - Internet, jegliche Art von Suchtmitteln -, ermögliche einen engen, intensiven Kontakt zwischen Mutter und Kind. Viele machten zum ersten Mal solche Beziehungserfahrungen mit ihren Kindern. Auch der Fotograf Erol Gurian kann aus den Gesprächen mit den Frauen berichten, dass die Haftzeit für diese oft eine "hochqualitative Zeit" sei. "Eigentlich ist es absurd", sagt er, im Gefängnis führten sie - im Vergleich zu vorher - ein nahezu behütetes Leben. Tagsüber werden die Kinder in einer Krippe betreut, die Mittagspause verbringen sie gemeinsam mit ihren Müttern. Die arbeiten oft bis 15 Uhr, beispielsweise in der anstaltseigenen Schneiderei.
Eindrucksvoll sind auch die Fotos vom kargen Spielplatz
Gurians Bilder zeigen nicht nur die Beziehungen zwischen Müttern und Kindern, sie zeigen auch, was sich unter den Frauen entwickelt. So hat er den Moment eingefangen, als eine Gefangene per Post eine gute Nachricht bekommt und eine Mitgefangene sich so mit ihr freut, dass sie ihr einen Kuss auf die Wange drückt. Es gibt Szenen aus dem Aufenthaltsraum, in dem die Frauen viel Zeit verbringen, Szenen von Kindern, die sich gerade zusammen mit den Erzieherinnen zum Spaziergang aufmachen, und Szenen des Abschieds, wenn eine Frau entlassen wird.
Eindrucksvoll sind auch die Fotos vom kargen Spielplatz auf dem Dach mit den paar Quadratmetern Rasen - sie könnten überall aufgenommen worden sein, befände sich darüber nicht das feinmaschige doppelte Stahlsicherheitsnetz, das verhindern soll, dass Geld, Nachrichten oder Drogen ihren Weg ins Gefängnis finden. Auf der Dachterrasse treffen sich die Frauen zum Rauchen, "der einzige Luxus", so Gurian.
Weil die Räume im Gefängnis sehr unterschiedlich ausgeleuchtet sind, hat er sich entschieden, seine Fotos in SchwarzWeiß auszustellen. "Ich hatte das Gefühl, das hilft auch, sie formal zusammenzuhalten, ihnen eine ästhetische Klammer zu geben." Er hat auch im Büro der Beamtinnen fotografiert. Die Wand ist übersät mit Kinderfotos, die ehemalige Gefangene geschickt haben. "Wir hören von jenen Frauen, denen es gut geht", sagt die Leiterin. Sie freut sich über die Post. "Wir sagen ihnen aber vorher schon, dass es keine Antwort geben wird."
Erol Gurians Fotoausstellung "Far From Home" ist bis 11. November in der Seidlvilla, Nikolaiplatz 1b, zu sehen. Öffnungszeiten: täglich 12 bis 19 Uhr, außer 27./28. Oktober und 1. November. Eintritt frei.