Süddeutsche Zeitung

Ausstellung im Jüdischen Museum:Das Nichts in der Vitrine

Eine Teetasse, ein großväterlicher Gebetsschal oder das Nichts: Eine Ausstellung im Jüdischen Museum München beschäftigt sich mit Emigranten aus der Sowjetunion und deren Erinnerungsstücken. Zu sehen sind Requisiten bewegter Vergangenheit.

Eva-Elisabeth Fischer

Was Julius Genss einst zusammengetragen hatte an Kunstwerken, lässt sich heute nur erahnen. Der Einsatzstab Alfred Rosenberg hat ihm die 12 000 Bände umfassende Kunstbibliothek geraubt und nach Berlin entführt. Die Mappen mit Originalen und Zeichnungen von Lilien, Chagall und Zeitgenossen flogen ins Feuer. Nur eine wurde vor der Zerstörung bewahrt. Unter den geretteten Blättern jüdischer Künstler befindet sich auch eine Rolle illuminierter Illustrationen des Hohen Liedes mit edlem Elfenbeingriff, die im Original insgesamt sechs Meter lang war.

Die Textpassagen stammen von Genss selbst, mit den farbglühenden Tempera-Zeichnungen hatte er 1932 den Maler Adu Vabbe beauftragt, eine Reihung voluptuöser Szenen, üppig und lasziv hingegossener Frauen, liebevoll ausgestalteter Palmengärten und überbordender Festivitäten.

Ein Roadmovie als Kunst-Krimi: Die Rolle ist das Hauptstück neben einem Faksimile der prachtvollen Sarajewo-Haggadah, drei expressionistischen Holzskulpturen und den Blättern aus erwähntem Konvolut, das derzeit den zweiten Stock des Jüdischen Museums in München schmückt. Die Reste der Sammlung befinden sich im Besitz von Mutter und Tochter Genss, Kontingent-Flüchtlinge auch sie wie so viele andere ehemalige jüdische Sowjet-Bürger. Die Ausstellung "Juden 45/ 90. Von ganz weit weg - Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion" bietet die einmalige Gelegenheit, diese Schätze zu sehen.

Jutta Fleckenstein und Piritta Kleiner, die Kuratorinnen der zweiteiligen Ausstellung "Juden 45/90" haben, und das war ihr Ziel, mit dieser Sammlung das Haus temporär in ein ostjüdisches Museum verwandelt. Der Begriff von Heimat ehemaliger Sowjet-Juden kann nur ein Trugbild gewesen sein, wenn man die Verfolgungs-Geschichte der vergangenen 130 Jahre seit 1882, der sogenannten ersten Alija, aufblättert: die Pogrome im zaristischen Russland, die die großen Einwanderungswellen nach Palästina zur Folge hatten und ohne die es Israel in seiner heutigen Gestalt nicht gäbe; die Massentötungen durch die Nazis und deren willige ukrainische Helfer, gipfelnd in den mehr als 33.000 Toten in der Schlucht von Babi Jar nahe Kiew; die Verfolgungen unter Stalin, am dramatischsten infolge der sogenannten Ärzte-Prozesse in den frühen 1950er Jahren, und schließlich die rechtsradikale Hetze gegen Juden und Zionisten der 1987 gegründeten Pamjat, die die jüngste Massenauswanderungswelle anstieß.

Über Ostberlin kamen 1990 der ersten sowjetischen Juden nach Deutschland. Ein Jahr später, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, konnten sie dank des Kontingentflüchtlingsgesetzes legal einwandern. Bis 2003 zählte man 200 000 Zuwanderer, wovon 110.000 als Gemeindemitglieder registriert sind. Sie werden bis heute jüdische Kontingentflüchtlinge genannt, obgleich es seitens der Bundesregierung kein numerisch beschränktes Kontingent gab und es sich im strengen Sinne nicht um Flüchtlinge, sondern um amtlich beglaubigte Einwanderer und nach jüdischem Gesetz nicht immer um Juden handelte.

Allein nach München zogen 28.000 von ihnen, also ebenso viele, wie man vor den "Russen", wie sie allenthalben heißen, an Gemeindejuden in der gesamten Bundesrepublik gezählt hatte. Jene waren die Überbleibsel der Wirrnisse nach der Schoah, einstige Displaced Persons (DPs), die Deutschland lange Jahre als Transit begriffen und auf gepackten Koffern saßen. Ihnen galt der erste Teil von "Juden 45/90" anhand der Geschichte des DP-Lagers Föhrenwald.

Anders als für die DPs war Deutschland für die "Russen" der Zielhafen, der ihnen ein sicheres, besseres Leben versprach. Die Autorin Lena Gorelik, heute 30 Jahre alt, kam 1992 mit ihrer Familie als Kontingentflüchtling nach München. Ihre Texte begleiten pointiert die Exponate und deren Geschichte, die von Einwanderern zur Verfügung gestellt wurden. Es sollten Dinge sein, die diese Menschen mit dem Judentum verbanden.

Eine Frau hatte nichts mitgebracht, weil es nichts gab, was sie hätte mitnehmen können. Dafür bekam sie eine leere Vitrine. Jüdisches Leben in der Sowjetunion hieß: leben unter einem Regime, das jede religiöse Ausübung verbot. Wo rituelle Gegenstände, die fast alle zerstört worden waren, kaum wiederbeschafft werden konnten, ist das Nichts das einzig wahrhaftige Symbol.

Dieses Nichts ist auch Zeichen für die Schwierigkeit, einem Phänomen Gestalt zu geben, das sich der Musealisierung entzieht. Die Ausstellungsmacherinnen wollten natürlich keine "Menschen hinter Glas". Der Weg, den sie inszenierten, führt, unterteilt in Stationen schnurgerade hinein in ein mit Perserteppichen ausgelegtes Wohnzimmer. Er ist bestückt mit nützlichen, trivialen wie auch absurden Gegenständen, die die Menschen mit auf die Reise nahmen.

Auch Erinnerungsstücke, wie eine Teetasse aus feinem Porzellan oder ein großväterlicher Gebetsschal, sind Requisiten bewegter Vergangenheit. Oder Lebensnotwendiges wie der Pass mit dem Eintrag unter Position 5, Nationalität - mit der Bestätigung, dass man Jude ist und gehen durfte.

Jüdisches Museum München, bis 27. Januar 2013.

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Quelle:
SZ vom 10.07.2012/sonn
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