Erinnert sich noch jemand an Orkan Lothar? Ein "Jahrhundertsturm" wurde er genannt, nachdem er am 2. Weihnachtsfeiertag im Jahr 1999 mit bis zu 272 Stundenkilometer über den Südwesten Deutschlands gefegt war und dabei Wald in einer Größenordnung von 56 000 Fußballfeldern vernichtet hatte. 13 Menschen kamen bei dem Sturm in Baden-Württemberg ums Leben. Quasi als Erinnerung daran gibt es seit 2003 an der Schwarzwaldhochstraße den " Lotharpfad". Dieser führt knapp einen Kilometer über Stege, Leitern und Treppen durch den Wald und bietet den jährlich etwa 100000 Besuchern die Erfahrung, der seitdem sich selbst überlassenen Natur bei der Rückeroberung des Raumes zuzusehen.
Nun kann man sich die Frage stellen: Wal(d)tet hier die reine Natur oder ist das doch eine Art passiven Eingreifens? Zumindest fragt sich das Paul Valentin in seinem Film "Lothar", der im Luftschutzkeller unter dem Münchner Haus der Kunst zu sehen ist. Dort findet unter dem Titel "Katakomb" die von Monika Senz und Stephan Janitzky kuratierte Ausstellung mit Arbeiten von 22 ausgezeichneten Absolventen der Münchner Kunstakademie aus den letzten drei Jahren statt. Wegen Corona-Verschiebungen sind gleich mehrere Jahrgänge versammelt, und auch in den Themen macht sich die Pandemie bemerkbar. Gefühle wie Angst und Trauer und apokalyptische Szenerien treffen auf Fragen wie: Was ist Kultur und was Natur? Ist eine neue Beziehung zwischen Mensch und Umwelt denkbar?
Ein Hirsch, eine Blumenbestäuberin und weibliche Fabelwesen
In "Lothar" scheint eine technische Anlage über den menschenleeren Lotharpfad zu wachen. Irgendwann taucht ein Hirsch auf, und es wirkt fast so, als würde sich der Weg aus herumliegenden Holzlatten selber bauen. In Laura Lepperts Zwei-Kanal-Videoarbeit "Possession" gibt es eine Blumenbestäuberin, die in naher Zukunft an einer rätselhaften Umweltkrankheit leidet. Und Sophia Mainka bietet in ihrem Video "SHTF" in einer ähnlich dystopischen Szenerie mit einer Prepperin, einer Videospielheldin, einem Chamäleon und einer postapokalyptischen Kriegerin vier weibliche Identifikationsfiguren an. Ashley Elizabeth Lamm zeigt ebenfalls weibliche Heldinnen: Aus Zeitschriftenmotiven collagierte Fabelwesen, Kämpferinnen oder Göttinnen, die man, in Textil übertragen, wie Anzüge tragen kann.
Patrik Thomas setzt sich in zwei Filmen mit dem Umgang mit Atommüll in Taiwan auseinander, Dominik Bais hat sich aus der akademischen Abguss-Sammlung die Füße des "Sophokles" geliehen und sie auf einen Backsteinsockel gestellt. Was zu der Frage verleitet: Was wird außer Müll in Zukunft von uns bleiben? Kazuyo Yabuuchi hat in die ehemaligen Duschkabinen des Bunkers eine Wellblechhütte eingebaut. Eine mehrfache Irritation, denn die Hütte besteht aus Wachs, Filz und Keramik. In den Duschkabinen auf der anderen Bunkerseite thematisiert Minjae Lee wiederum sehr eindringlich die Irritation darüber, dass unter Corona unser Atem zur Gefahr geworden ist.
Auch bei Kadir Fadhel und Jaemin Lee geht es um existenzielle Themen. Fadhel stammt aus dem Irak. In einem Video sieht man ihn auf dem Tahirplatz in Bagdad mit einer Säge auf einer Geige spielen, auf einer Tafel hat er Kriegserinnerungen aufge- und überschrieben. Und in poetischen Texten fasst er mit Sätzen wie "Ich bin vier Kriege und eine Wirtschaftsblockade alt" sein Leben zusammen. Lees Installation "Oh my Bernd" ist eine Hommage an seinen verstorbenen Lebenspartner. Auf Bildern sind persönliche Chat-Nachrichten wie "Wake Up" oder "Schätzle" gemalt und auf Boden und Wänden sogar ganze Chat-Verläufe abgedruckt. Für Lee repräsentieren sie die wahre Liebe, die sich wie die Angst rein körperlich nicht fassen lässt. Und auch wenn die Angst als Thema in der Ausstellung dominiert: Lees Arbeit vermittelt die Hoffnung, dass die Liebe doch das stärkere Gefühl ist.
Katakomb - Debütant*innen 2019 + 2020 + 2021, bis 19. Dez., Haus der Kunst, Luftschutzkeller, Prinzregentenstr. 1