Ist es tatsächlich noch nicht einmal 50 Jahre her, dass der Schweizer Autor Max Frisch schrieb, „der Mensch erscheint im Holozän“? Und das, um deutlich zu machen, wie klein dieser Mensch doch angesichts der Welt ist? Derselbe Mensch, der sich gerade anschickt, diese 12 000 Jahre andauernde Epoche zu beenden und sie zu überführen in die des Anthropozäns? Also eines Erdzeitalters, in dem der Homo sapiens so prägend ist, dass er der Erde in allem seinen Stempel aufdrückt? Versucht, sie sich untertan zu machen, indem er sie rücksichtslos verändert, zerstört und neu gestaltet? Ein Schöpfer einer neuen Schöpfungsgeschichte?
Und wie wird dieses Anthropozän in einigen Jahren sein? Wird die Natur noch eine Rolle spielen? Wird alles nur noch menschengemacht sein? Oder – noch krasser – nur noch computergesteuert oder KI-generiert? Wird der Mensch darin überhaupt noch eine Rolle spielen? Oder wird er sich am Ende selbst abgeschafft haben? Weil er selbst das Unvollkommene, das Störende, der Makel sein wird, ohne den diese schöne, neue Welt viel besser zurechtkommt, als mit ihm?

Mit diesen und vielen weiteren Überlegungen zur Zukunft der Menschheit – und des Menschseins – verlässt man die Ausstellung „Civilization. Wie wir heute leben“ in der Münchner Kunsthalle. Eine Ausstellung, die etwa 230 Bilder von mehr als 100 Fotografinnen und Fotografen aus der ganzen Welt zeigt: berühmte und weniger berühmte, alte und junge, sehr viel mehr männliche als weibliche – auch wenn man sich bemüht hat, die Quote nachzubessern. Ebenso wie man versucht hat – allen voran der neue Kurator der Kunsthalle, Stefan Kirchberger –, die acht Kapitel fortzuschreiben und der Präsentation zum 40-jährigen Bestehen der „Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung“, wie sie offiziell heißt, ein paar münchnerische Positionen hinzuzufügen.
Denn eigentlich ist diese Ausstellung nicht neu. „Civilization. Wie wir heute leben“ wurde vom National Museum of Modern and Contemporary Art in Seoul und der Foundation for the Exhibition of Photography Minneapolis/Lausanne zusammengestellt. Seit 2018 war sie unter anderem in Seoul, Peking, Melbourne, London und Taipeh zu sehen. Da aber dieses „wie wir heute leben“ eben längstens bis 2018 reichte, die Welt sich im Zeichen des Mensch-Zeitalters aber immer schneller und schneller dreht, fehlten schlichtweg etwa sieben Jahre.
Sieben Jahre, in denen eine Pandemie die Welt in Atem hielt; in denen die technische Entwicklung auf so gut wie allen Gebieten, insbesondere dem der künstlichen Intelligenz, exponentiell fortschritt; in denen Klimawandel, Umweltzerstörung, geopolitische Veränderungen aller Art die Gesellschaften in allen Teilen der Welt mehr denn je sichtbar und spürbar beeinflussten. Und dabei sind die jüngsten dramatischen Ereignisse seit Trumps Wiederwahl mit dem Versuch der Zerschlagung einer freien Gesellschaft, einer unabhängigen Wissenschaft und Kultur und eines globalen Warenverkehrs aufgrund des von ihm angezettelten Welthandelskriegs noch längst nicht bedacht. Wie viel von dieser etwas aktualisierten Präsentation spezifisch münchnerisch bleiben und wie viel 2026 weiterwandern wird zur nächsten Station, nach Zürich ins Museum für Gestaltung, wird man sehen.
Man wird überflutet von Eindrücken
Und was gibt es denn nun zu sehen? Die Ausstellung ist so überbordend, dass man überflutet wird von Eindrücken. Das ist vielleicht auch ihre größte Schwäche. Vieles aus den acht Kapiteln könnte man ebenso gut anderen Kapiteln zuordnen. Eine restriktivere Auswahl hätte der Schau wohl gutgetan. Andererseits: Die Vielfalt garantiert auch eine größtmögliche Bandbreite an Perspektiven, wenngleich nicht an Handschriften. Man merkt der Schau die Vorliebe des Hauptkurators William A. Ewing an: Es herrschen der frontale Blick und die Aufsicht von schräg oben vor.

Die bei Kunsthallen-Ausstellungen zuletzt so aufwendige und typische Ausstellungsarchitektur fehlt diesmal. Im Wesentlichen dominiert das White-Cube-Prinzip. Eine der wenigen räumlichen Interventionen ist der riesige Druck eines Sternennebels, aufgenommen vom James Webb Weltraumteleskop, der sich interessanterweise nicht an der Decke, sondern auf dem Boden ausbreitet, sodass man am Ende der Ausstellung die Erde gleichsam verlässt und die Zukunft im Weltraum betritt.

Ein Zeitstrahl, an dem man wie an einem Indikator die Beschleunigung ablesen kann, mit der sich die Welt entwickelt, führt auf eine 3D-Visualisierung des berühmten, 1972 von der Apollo-Besatzung geschossenen Fotos des Blauen Planeten zu. Hier sind dank wissenschaftlicher Echtzeitdaten globale Ströme zu sehen: Bewegungsdaten von Schiffen und Flugzeugen, Waren- und Verkehrswege, Wind- und Wasserströmungen, Lichtquellen und Straßensysteme. Sie machen deutlich, wie sehr alles mit allem zusammenhängt und wie stark der Mensch die Erde geprägt hat. Dies ist wie die One-World-Flagge von Thomas Mandl – ebenfalls am Beginn der Ausstellung zu sehen – eine spezifisch münchnerische Intervention.
Noch so ein spezifisch münchnerischer Blick, der zugleich auf die Globalität von Ereignissen verweist, ist das Foto von Manuel Picker. Dem 1982 geborenen Fotografen aus München ist eine Überblicksaufnahme des Olympiaparkgeländes gelungen, während dort Taylor Swift mit ihrer „Eras-Tour“ im Sommer vergangenen Jahres Station machte. Das Kunsthallen-Team hat das Foto raumgreifend an die Wand geprintet. Und trotz der Größe der Darstellung bleibt das Verhältnis vom Individuum zur Masse derart kritisch, dass jeder Philosoph und jeder Sozialwissenschaftler seine helle Freude an diesem Anschauungsmaterial haben muss.
Hinterfragt man Individualität, ist auch eine Aufnahme wie die von Lauren Greenfield bemerkenswert: Die Jugendlichen, die sie fotografiert hat, während die sich vor einem halbdurchlässigen Spiegel schminken, scheinen nach ihrem persönlichen Ausdruck zu suchen. Und doch erkennt man schnell, dass sie einer Peergroup angehören.

Auch die Fotos, die sich mit Konsum beschäftigen, deuten in eine ähnliche Richtung: ob es sich um die ausdruckslosen Gesichter der Models handelt, die Valérie Belin 2006 inszeniert hat, die Desigual-Werbung von Natan Dvir von 2013 oder die Aufnahmen der Mega-Einkaufszentren in China und Abu Dhabi. Ebenso wenig tröstlich sind die Bilder, die sich mit Städtebau auseinandersetzen, wie die Beispiele aus São Paulo, Mexiko-Stadt, Mumbai oder die Baustelle des Burj Khalifa Turms in Dubai eindrucksvoll demonstrieren.

Der Kontrolle des Einzelnen steht die Kontrolle der Gesellschaft, der Technik, der Ressourcen gegenüber. Da ist Jeffrey Milsteins Aufnahme vom Terminal B in Newark noch eher harmlos, weil Effizienz im Zusammenhang mit Flugverkehr gewünscht ist und sich die negativen Folgen des Flugverkehrs leicht ausblenden lassen. Anders ist es, wenn systematische Ressourcenausbeutung mit direkter Umweltzerstörung einhergeht, wie die Aufnahmen der Lithium-Minen von Edward Burtynsky, das Fotoband der Ölförderfelder von Mishka Henner, die schwimmende Ölplattform mit dem bezeichnenden Namen „Goliat“ im Nordpolarmeer von Jo Choon Man oder all die anderen Fotos zeigen, in denen es um Energieverbrauch von Supercomputern, Plastikverschmutzung von Meeren und Meerestieren oder das Abschmelzen des Ewigen Eises geht.

Da bleibt nur noch die Flucht in vergangene oder künstliche Welten. Die einen spielen die Schlacht von Gettysburg von 1863 nach, andere suchen Ablenkung in Freizeitspaßbädern, Aquarien oder auf Kreuzfahrtschiffen.
Vom ersten Raum mit Fotografien von Candida Höfer und Thomas Struth von Orten, die das Wissen und die Geschichte der Menschheit bewahren, also eher retrospektiv sind, bis hin zum letzten Raum, in dem man die Erde verlässt und einen Blick ins Weltall und in die Zukunft wagt, prallen immer wieder individuelle Werte und Sehnsüchte auf kollektive Spuren und Errungenschaften. Mit all den Irrungen und Wirrungen, denen der Mensch wie auch die Menschheit unterliegt. Vieles kann nur in Zusammenarbeit und unter Einbeziehung kollektiven Wissens geschaffen werden.

Manchmal aber braucht es auch einzelne Visionäre, mitunter auch einen Spinner, um die Menschheit im besten Fall einen großen Schritt in der Entwicklung voranzubringen. Schlimmstenfalls führen deren Machtansprüche ins Chaos. Und bei all den technoiden Verherrlichungen, die beispielsweise der Fotograf Michael Najjar in Bildern wie „Orbital Ascent“ aus der Serie „Outer Space“ in Szene setzt, wird man fast unweigerlich an den Größenwahn à la Elon Musk erinnert. Dass dies in Zeiten wie diesen aber alles andere als hoffnungsfroh stimmt, muss wohl kaum betont werden.
Civilization. Wie wir heute leben, Kunsthalle München, bis 28. August