An den Wänden hängen Familienfotos. In einem Regal daneben stapeln sich CDs. Das Herzstück des Raumes ist eine lederne Couchgarnitur. Auf den ersten Blick ist alles wie in einem gewöhnlichen Wohnzimmer, wären da nicht einige Ungereimtheiten. Der Flickenteppich unter dem Tisch ist aus Zeitungspapier geflochten. Die Wände sind mit großen weißen Wolken bemalt. Das Sofa ist in Plastikfolie verpackt. Und wäre das nicht absurd genug, befindet sich der Raum mitten in einer Kunstgalerie. Bei dem Wohnzimmer in den Wolken handelt es sich um das Werk von Selassie und Koofori, zwei der insgesamt elf Künstler der Afro German Art Ausstellung.
Den beiden gelingt es, eine faszinierende Vertrautheit zu schaffen und das in einer Galerie: Einem Ort, an dem man sich für gewöhnlich nicht zu Hause fühlt. Es ist eine Institution. Betritt man sie, spricht man intuitiv leiser und bewegt sich achtsamer. Die Installation bricht mit diesen ungeschriebenen Verhaltensregeln. Sie macht die Galerie zu einem Ort, an dem man Geschichten lauscht und Erfahrungen teilt. Wie in einem echten Wohnzimmer eben: ein Raum, der fest mit Sätzen verbunden ist, wie: „Setz dich doch zu uns“, und „Wir haben dir viel zu erzählen!“

Viel zu erzählen haben die Künstlerinnen und Künstler allemal. Wer mehr über die Geschichten hinter den Werken erfahren möchte, kann an der Kasse ein Infoheft erhalten. Läuft man zufällig dem Kurator Kevin Anderson über den Weg, liefert er weitere interessante Hintergrundinfos. Zum Beispiel, dass afrodeutsche Eltern ihre Polstermöbel in der originalen Plastikverpackung lassen, damit sie möglichst lange unbeschadet bleiben. Nicht gerade die erste Assoziation, die einem in den Sinn kommt, wenn man an den Begriff „afrodeutsch“ denkt. Vielleicht, weil man sich bislang kaum mit der dahinterliegenden Kultur beschäftigt hat, oder weil viele gar nicht genau wissen, was afrodeutsch überhaupt bedeutet.
Der Begriff bezeichnet deutsche Staatsbürgerinnen und Bürger mit afrikanischen Wurzeln. Über eine Million von ihnen leben in Deutschland. Die Bezeichnung „afrodeutsch“ entstand aus einer Protestbewegung in den Achtzigern. Der Begriff wurde durch die Afrodeutschen selbstbestimmt geprägt und versteht sich wertfrei. Ihre Kultur ist eine Verschmelzung von afrikanischen und deutschen Elementen. Über mehrere Generationen entstand eine einzigartige Sicht auf die Welt, die sich unter anderem in der Kunstszene wiederfindet, so auch in der Galerie der Künstler.

Die ausgestellten Werke erzählen Geschichten von starken Frauen, der engen Verbundenheit zu den afrikanischen Wurzeln und von Schicksalsschlägen. All das mit einem unermüdlichen Optimismus und einer faszinierenden Leichtigkeit. Der durch den Kurator Kevin Anderson, alias Koofori, formulierte Wunsch: sich zeigen ohne Vorurteile und Klischees. In Vielfalt, Farbe und mit unermüdlicher Positivität.
Wilde Striche tanzen über die Leinwand. Sie leuchten auf dem schwarzen Hintergrund und formen eine krakelige Krawatte, ein buntes Hemd und ein stechendes Paar Augen. Selassies „The boy that fell from the apple tree“ fasziniert mit der fast schon kindlichen Leichtigkeit der Linienführung und seinem vereinnahmenden Blick. Beide Elemente finden sich in all seinen großflächigen Porträts wieder. In der Ausstellung ist den Arbeiten des deutsch-ghanaischen Künstlers ein ganzer Raum gewidmet. In Selassies Arbeiten spiegelt sich eine intensive Auseinandersetzung mit Herkunft, Identität und familiären Wurzeln wider. Trotz der persönlichen Tiefe strahlen seine Werke eine mitreißende Fröhlichkeit aus.
Für gewöhnlich stünden bei Ausstellungen mit einem ähnlichen thematischen Schwerpunkt Rassismuskritik und postkoloniale Erfahrungen im Mittelpunkt, findet Kuratorin Domino Pyttel. Sie kritisiert: „Bisherige Formate waren und sind oft ein Schuldzugeständnis von häufig weißen Kuratoren“. Eine Aufarbeitung der kolonialen Gewaltverbrechen und des jahrzehntelangen, bis heute andauernden Rassismus sei essenziell. Doch nehme es den Künstlern häufig den Raum, sich selbst als Individuen zu zeigen – frei und ohne Vorurteile. Dies will die Ausstellung in der Galerie der Künstler ändern. Unter anderem ließen die Kuratoren den Künstlern bei der Auswahl der Werke, die sie ausstellen wollen, weitgehend freie Hand.
Geht man noch einen Schritt im Entstehungsprozess zurück, wird ein weitaus fundamentaleres Problem der afrodeutschen Szene sichtbar. Sie ist im allgemeinen Kunstbetrieb unterrepräsentiert. Dies zeigt sich bereits nach einer kurzen Google-Suche. Die letzten beiden größeren Ausstellungen, die ausschließlich Künstler mit afrikanischen Wurzeln zeigten, liegen drei Jahre zurück. Es war also höchste Zeit für eine afrodeutsche Kunstausstellung in der Galerie der Künstler.
Vor allem die Künstlerinnen setzen mit ihren Arbeiten starke Zeichen. Eine zentrale Rolle spielen dabei ihre Haare. Für viele Afro-Frauen sind sie Fluch und Segen zugleich. Dies zeigt sich in den beiden Videos der Künstlerin Vivian Ngozi. In „Hair Stories“ zeigt sie sich verletzlich. Mehrere Videoschnipsel, abgespielt auf einem Tablett, dokumentieren, wie sie sich ihrer Haarpracht entledigt. Darüber, in einer großflächigen Projektion, posiert Ngozi in Reizunterwäsche, mit langen Nägeln und glattrasiertem Kopf. Der Titel lautet „Hairy Seduction“. Für sie bedeutet es Freiheit, sich die Haare abzurasieren. Sie entfliehe dabei den weißen Schönheitsidealen. Denen sei sie viel zu lange hinterhergejagt, wie sie mit ruhiger Stimme, durch die Kopfhörer des Tabletts, erklärt.

Bei Candy Zuckerschock wiederum werden Haare zu einer Rüstung. Die Arbeit thematisiert die alltägliche Erfahrung vieler Menschen mit afrikanischen Wurzeln, vor allem an den Haaren ungefragt berührt zu werden. „Haute Coiffe – verflochten“ ist eine Korsage aus kunstvoll geflochtenen Zöpfen, sogenannten Braids und kleinen silbernen Perlen. Sie ist nicht nur ein ästhetisches Modeobjekt, eine klare Botschaft steckt dahinter: „Schau ruhig, aber fass’ nicht an!“ Bei beiden Künstlerinnen spielt Selbstermächtigung und die Kontrolle über den eigenen Körper eine wichtige Rolle. Symbolisiert werden diese durch die Entscheidung über die eigenen Haare.
Die Ausstellung Afro German Art ist ein gelungenes Plädoyer für mehr Sichtbarkeit. Sie kann als eine bunte Collage aus Perspektiven, Ausdrucksformen und individuellen Geschichten verstanden werden. Ein Einblick in eine Kunstszene, der mehr Aufmerksamkeit gebührt.
Afro German Art, Galerie der Künstler, bis 21. September 2025, Infos unter www.bbk-muc-obb.de

