Ausnahmeerscheinung:Pionier im Schäferwagen

Der Bauer Karl war der erste Bewohner von Poing-Nord. Später kannten ihn die meisten Leute zumindest vom Sehen. Seinen Spitznamen "Rausch-Kare" hat sich der Mann redlich verdient.

Von Barbara Mooser, Poing

Als er nach Poing-Nord zog, gab es dort nichts. Keine Schneewittchenstraße und keinen Rübezahlweg, keine Schule, kein City-Center, kein Hotel, noch nicht einmal die Neue Gruber Straße. Nur Wiesen und weite Flächen bis nach Pliening. In einiger Entfernung ein paar Bauernhöfe. Und dann eben auch den Bauern Karl und seinen alten Schäferwagen. In einer früheren Kiesgrube fand er, der seine wirkliche Heimat vor Jahrzehnten verloren hatte, so etwas wie ein neues Zuhause. Auch in der Poinger Heimatgeschichte hat sich der Bauer Karl ein winziges Plätzchen erobert: als erster Bewohner von Poing-Nord.

Wer damals schon in Poing lebte, kannte Bauer Karl zumindest vom Sehen. Er saß gern auf einer Bank in der Hauptstraße, wo er das eine oder andere Bier genoss, bisweilen auch das eine oder andere zu viel, weshalb die Gemeinde irgendwann der Beschwerden darüber überdrüssig wurde und das Bänkchen abmontierte. Seinen Spitznamen "Rausch-Kare" scheint sich der Mann jedenfalls redlich verdient zu haben. Peter Dreyer, der damals ein kleiner Bub war, erinnert sich an aufregende Deals mit ihm: "Wir haben ihm eine Flasche Bier mitgebracht, dafür hat er uns an Silvester Kracher gekauft." Eine klare Win-Win-Situation.

Doch klar war auch jedem, dass das Leben dem Bauer Karl nichts geschenkt hatte. 1946 war er aus dem Sudetenland nach Poing gekommen, hatte sich danach bei verschiedenen Bauern oder auch im Lagerhaus verdingt. Erst als er in Rente ging, legte er sich seinen Schäferkarren zu. "Er hat aber immer anklingen lassen, dass er früher einen besseren Umgang hatte", erinnert sich Ludwig Lanzl junior. Bei dem Bauernhof seiner Familie kam der Bauer Karl manchmal vorbei, um an besonders kalten Wintertagen um eine Decke zu bitten oder um ein Bier. Auch Peter Dreyer erzählt davon, dass der Bauer Karl mit den Damen einen galanten Umgang pflegte, ihnen als Kavalier auch immer die Tür aufhielt.

Renate Karisch von der Gemeindeverwaltung hatte von Berufs wegen mit ihm zu tun. Sie fing 1980 im Einwohnermeldeamt an und stellte schnell fest, dass dieser spezielle Poinger, 65 oder 70 mag er damals gewesen sein, zwar einiges an Betreuung brauchte, aber ein herzensguter Kerl war. "Er wurde nie ausfällig, er war halt ein Original", erzählt sie. Sein Schäferkarren, der nur durch einen alten Holzkohleofen zu beheizen war, muss innen schwarz wie die Nacht vom vielen Qualm gewesen sein. Den alten Herren habe immer ein Geruch wie ein Geräuchertes umgeben. Und wenn er sich bei seinen Besuchen im Rathaus aufgrund seiner hauptsächlich flüssigen Nahrung an der Wand abstützte, hinterließ er tiefschwarze Handabdrücke. "Wir haben immer gefürchtet, dass er einmal an einer Kohlenmonoxidvergiftung stirbt in seinem Karren", erinnert sich Karisch.

Dazu kam es nicht, ein Oberschenkelhalsbruch machte es unmöglich, dass der Bauer Karl in seinem Wagen blieb. Nach dem Krankenhausaufenthalt brachten ihn Mitarbeiter der Gemeinde nach Bad Feilnbach. Dort gab es eine Einrichtung für ältere Menschen, die nicht ganz zur Klientel gewöhnlicher Altenheime passten. Der Bauer Karl soll dort recht zufrieden gewesen sein, er starb ein paar Jahre später - gefunden wurde er, an seinem Tisch sitzend, mit einer halb leeren Flasche Bier vor ihm. Seinen Schäferkarren gab es da schon lange nicht mehr. Die Feuerwehr hatte ihn in Brand gesetzt und für eine Übung genutzt.

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