Süddeutsche Zeitung

Ausgrabungen:Altes Geschirr, trotzdem wertvoll

Auf dem Gelände des früheren KZ-Außenlagers Allach haben Archäologen weit mehr und weit interessantere Dinge gefunden als gedacht. Die vermuteten Massengräber indes nicht. Die aber lägen, wenn es sie gibt, auf dem Teil des Areals, der von Januar an untersucht wird

Von Helmut Zeller

Mit einer derart großen Ausbeute hatten die Archäologen nicht gerechnet: Eine ganze Garage ließe sich mit den Relikten aus der Nazizeit füllen, die auf dem Gelände des ehemaligen KZ-Außenlagers Allach ausgegraben worden sind. Selten werden heute, 71 Jahre nach Kriegsende, so viele Gebrauchsgegenstände von Häftlingen geborgen wie jetzt auf dem Areal an der Granatstraße in der Siedlung Ludwigsfeld. Noch liegt das wissenschaftliche Gutachten nicht vor, das NS-Dokumentationszentrum will es Anfang November vorstellen. Aber schon jetzt ist klar: Die Funde, die einen Einblick in den Lageralltag vermitteln, sind nach Informationen der Süddeutschen Zeitung von großem Wert für die wissenschaftliche Forschung. Von Massengräbern jedoch, nach denen eigentlich gesucht wurde, fanden die Archäologen keine Spur. Die aber sollen sich im nördlichen Teil des Grundstücks befinden, der erst noch untersucht werden muss.

Die Ausgrabungen auf dem südlichen Areal des Grundstücks brachten Geschirr, Fußlappen, selbst gefertigte Messer, Löffel, Büchsen, Dosen hervor - alle möglichen Artefakte von Häftlingen, die nach der Befreiung der Konzentrationslager (KZ) meist weggeworfen worden waren. Solche Relikte, die vom Lageralltag erzählen, sind für Historiker bedeutsam, ermöglichen Gedenkstättenbesuchern eine Vorstellung vom KZ-Terror. Im Frühjahr dieses Jahres hat die KZ-Gedenkstätte Dachau sieben neue Vitrinen mit kleineren Objekten anderer Herkunft aufgestellt. An den Exponaten - darunter Rasierzeug, Bücher aus der Lagerbibliothek, eine illegale Armbinde - wird die Geschichte vom Widerstand und der Selbstbehauptung der Häftlinge erzählt. Die Allacher Ausbeute bietet noch mehr Möglichkeiten: Die Forscher entdeckten in Blech gestanzte Häftlingsnummern, denen man nun Namen aus den Archiven zuordnen kann.

Neben Häftlingsutensilien wurde auch ein Bunker gefunden. Wozu das Bauwerk diente, wird das Gutachten noch klären. Die zentrale Frage bleibt indes unbeantwortet: Liegen in der Siedlung Ludwigsfeld Massengräber von Häftlingen? Viele Historiker zweifeln daran. Der Stadtteilhistoriker Klaus Mai aber vermutet die sterblichen Überreste von etwa 300 Häftlingen im Nordteil des Geländes.

Seiner Hartnäckigkeit verdanken die Historiker jedenfalls die bisherigen Funde. Im Frühjahr begannen die Ausgrabungen. Mai, Mitglied der Lagergemeinschaft Dachau, hatte in jahrelanger Arbeit die Geschichte des fast vergessenen Lagers auf Münchner Stadtgebiet erforscht und die Grabungen initiiert. Von 1943 bis 1945 mussten Tausende Häftlinge im Allacher Lagerkomplex, elf Kilometer vom Stammlager in Dachau entfernt, Zwangsarbeit für die Firma BMW und die "Organisation Todt" (OT) verrichten. Klaus Mai zufolge lag auf der noch nicht untersuchten Fläche an der Granatstraße ein Teil des OT-Lagers mit ungefähr 4500 jüdischen Häftlingen bei Kriegsende. Sie mussten für den Rüstungsbetrieb BMW Bunker bauen - die Zahl ihrer Toten schätzt Mai auf 2300. Mehr als 400 verscharrte Opfer sind in den 1950er Jahren, als die Siedlung Ludwigsfeld entstand, umgebettet worden. Aber es soll noch mehr geben. Mai, SPD-Mitglied im Bezirksausschuss Feldmoching-Hasenbergl, stützt seine Annahme auf eine Luftbildaufnahme und Zeugen.

Einer war der Holocaust-Überlebende Max Mannheimer, Präsident der Lagergemeinschaft Dachau, der vor gut einem Monat im Alter von 96 Jahren gestorben ist. Er musste die Leichen in das Stammlager nach Dachau bringen und erinnerte sich an "mindestens drei Massengräber" auf dem Allacher Gelände. Nachdem das Krematorium in Dachau die Toten nicht mehr aufnehmen konnte, wurden sie dort verscharrt. Letzte Gewissheit werden weitere Grabungen bringen - und für die ist jetzt der Weg frei.

Am 13. September hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof der Stadt München in ihrem Rechtsstreit mit dem Pächter des nördlichen Grundstücksteils recht gegeben. Das Areal war für eine Baumschule vorgesehen, der Mieter hatte jedoch eine Art Schrottplatz angelegt. Brisant wurde die Situation, als Klaus Mai im Sommer 2015 beobachtete, dass auf dem Gelände Baugruben ausgehoben wurden. Er befürchtete, dass die Gräber zerstört würden, und alarmierte die Lokalbaukommission. Wie Thorsten Vogel, Sprecher des Planungsreferats, sagt, wird der Mieter bis Jahresende das Grundstück räumen. Der Eigentümer, eine Projektgesellschaft "PG Granatstraße 12", will auf dem gesamten Gelände Wohnungen erbauen - sie kooperiert aber mit der Forschungsgruppe. Der zweite Grabungsabschnitt wird, abhängig vom Wetter, im ersten Halbjahr 2017 beendet sein.

Eine Machbarkeitsstudie im Auftrag der KZ-Gedenkstätte Dachau soll klären, was man dann mit den Relikten, die zurzeit konserviert werden, und weiteren Funden machen wird. Diese Frage treibt die Lagergemeinschaft um. Sie fordert einen Gedenkort und eine Ausstellung der Funde in der noch erhaltenen letzten KZ-Baracke, die heute vom TSV Ludwigsfeld genutzt wird. Das war der Wunsch Mannheimers. Er entschied, obwohl gesundheitlich angeschlagen, Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) selbst das Totenbuch von Allach mit 1070 Namen zu überreichen, um dessen Unterstützung zu gewinnen. Dazu kam es aber nicht mehr. Acht Tage nach seiner Ankündigung im Kreis der Lagergemeinschaft starb Mannheimer. Der Auschwitz-Überlebende war vom 1. September 1944 bis 24. Februar 1945 im Außenlager Allach, einem der größten des KZ Dachau. Das Totenbuch wird jetzt am 17. November im Rathaus dem Oberbürgermeister übergeben. In der Lagergemeinschaft geht jedoch die Sorge um, ob die Landeshauptstadt sich nach Aubing noch einen Gedenkort finanziell leisten wird. Im ehemaligen Zwangsarbeiterlager wurde mit Mitteln aus dem städtischen Kulturfonds eine noch erhaltene Baracke vor dem Verfall gerettet.

Lange Zeit schwieg die einstige "Hauptstadt der Bewegung" über ihr NS-Erbe. "Dieses Münchner KZ ist von der Stadt und der Wissenschaft vergessen worden", hatte Klaus Mai festgestellt. Heute aber ist das anders, nicht zuletzt wegen des Wirkens von Max Mannheimer, wie Reiter auf der Gedenkfeier in der Israelitischen Kultusgemeinde am Sonntag sagte.

Der in Allach gefundene Bunker wurde vermessen, untersucht und abgetragen - er steht auf wertvollem Bauland. Sollten die Archäologen aber noch Gräber entdecken, dann muss entsprechend der bilateralen Vereinbarungen von Paris im Jahr 1955 eine Gedenkstätte errichtet werden.

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Quelle:
SZ vom 28.10.2016
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