Süddeutsche Zeitung

Ausgrabung:Latrinen im Marienhof sind "Glücksfall für die Archäologen"

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Von Günther Knoll, München

Knochen können spannend sein, nicht nur als dankbares Material für TV-Krimiserien. Den Archäologen liefern sie seit je wertvolle Erkenntnisse. Doch mit dem Skelett einer Kuh, das bei Ausgrabungen am Marienhof hinter dem Rathaus in einem Brunnenschacht gefunden wurde, haben selbst Experten so ihre Schwierigkeiten. Nein, nicht mit der Datierung und auch nicht mit der Anatomie. Die Frage ist: Wie konnte vor etwa 700 Jahren eine ganze Kuh in dem Brunnen landen?

Darüber kann Ptolemaios Paxinos, der zurzeit am Institut für Paläoanatomie, Domestikationsforschung und Geschichte der Tiermedizin der Ludwig-Maximilians-Universität mehrere Tausend Tierknochen vom Marienhof untersucht, nur Vermutungen anstellen. Doch das, so sagt er, sei nicht Sache der seriösen Wissenschaft. Dass das Tier einst aus Versehen hineinfiel, hält Paxinos für unwahrscheinlich, weil solche Brunnen auch im Mittelalter in der Regel eingefasst gewesen seien.

Eine Röntgenuntersuchung der Kuh, die mit einer Widerristhöhe von 95 Zentimetern deutlich kleiner war als heutige Hausrinder, hat zwar einen Bruch des linken Mittelfußknochens ergeben. Doch der war, wie Paxinos sagt, gut verheilt. Auch Veränderungen an einzelnen Wirbeln ließen nicht auf einen akuten Unfall schließen, sie könnten auf einen Einsatz als Arbeitstier oder auf eine frühere Krankheit hindeuten. Weitere Untersuchungen sollen nun die Todesursache klären, bis dahin bleibt also doch nur eine Vermutung: Jemand könnte das Rind absichtlich in den Brunnen geworfen haben.

Durch den Kadaver war das Brunnenwasser jedenfalls so verunreinigt, dass der Schacht fortan nur noch als Abfallgrube genutzt wurde. In diesen Latrinen und Gräben des Marienhofs sieht Paxinos einen "Glücksfall für die Archäologen", da sie oft besondere Funde enthielten und die Knochen meist gut erhalten seien.

So gut, dass der Archäozoologe auch Rückschlüsse auf bestimmte Ernährungsgewohnheiten der Münchner im späten Mittelalter ziehen kann: Wenn Fleisch gegessen wurde, dann in erster Linie das vom Rind. Wohl aber gab es lokale und auch zeitliche Unterschiede. Einmal folgte das Schwein als Nahrungsquelle Nummer zwei, einmal Schaf beziehungsweise Ziege, die Knochen dieser Tiere lassen sich nur schwer unterscheiden. Pferde waren als Reit- und Zugtiere so wertvoll, dass ihr Fleisch offenbar "tabu" war, wie Paxinos erläutert.

Wie oft die Münchner einst Fleisch aßen, darüber lassen die Funde keine Rückschlüsse zu. Doch sie zeigen, dass durch die Nähe zur Isar auch Süßwasserfische eine wichtige Nahrungsquelle waren. Und offenbar gab es auch damals schon Feinschmecker: In einem Schacht am Marienhof wurden viele Knochen von Froschschenkeln gefunden.

Forscher fanden auch Katzen-, Hunde- und Vogelknochen

In einem anderen Schacht fanden sich viele Katzenknochen. Diese Tiere galten, wie der Archäozoologe sagt, früher als Schädlinge. Weil Spuren zeigen, dass die Pfoten abgeschnitten wurden, nimmt er an, dass die Katzen gehäutet wurden, um ihr Fell zu nutzen. Hundeknochen fand man in einer anderen Grube. Die genaue Rasse lässt sich daraus nicht mehr feststellen, doch von der Größe her schließt Paxinos auf ein für München typisches "Zamperl", also einen kleineren Hund, einen Dackel aber schlössen die Proportionen aus.

Rätsel geben den Archäologen die im Stadtgraben gefundenen Vogelknochen auf: Überreste vom Gänsegeier, vom Mönchsgeier, vom Seeadler, vom Raufußbussard und vom Sperber, wie Paxinos aufzählt. Gegessen wurden diese Vögel wohl nicht, der Sperber könnte möglicherweise zur Beizjagd verwendet worden sein. Die anderen Knochen beweisen immerhin, dass Geier und Adler damals noch nicht zu den Raritäten zählten. Und die Schnittspuren am Flügelknochen eines Geiers könnten darauf hindeuten, dass man dessen große Federn genutzt hat.

Interessant dürfte zudem die Auswertung eines anderen Fundes sein: Rattenknochen. Die werde man daraufhin untersuchen, ob sich dort der Pest-Erreger findet, kündigt Paxinos an, denn die "schwarzer Tod" genannte Seuche suchte im Mittelalter auch München heim. Eine echte Knochenarbeit also, die da noch auf die Archäozoologen wartet.

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Quelle:
SZ vom 21.06.2018
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