Ausbildungs-Misere:Ausgenutzt und abgeschoben

Beschimpfungen, Beleidigungen, Schläge: Lehrlinge nehmen Hilfsarbeiten, unbezahlte Überstunden und Übergriffe in Betrieben hin. Aus Angst um ihre Lehrstelle.

Martin Hammer

Vor zwei Jahren glaubte Robert noch, das große Los gezogen zu haben. Einen Ausbildungsplatz als Kfz-Mechatroniker hatte er ergattert, in einem Autohaus vor den Toren der Stadt: Keine kleine, schmuddelige Hinterhof-Werkstatt, ein Vertragshändler mit großen Ausstellungsflächen und bunten Fahnen vor der Tür. Für einen Jugendlichen mit Hauptschulabschluss ein Hauptgewinn.

Lehrlinge bei der Arbeit, Foto: ddp

Wer sich seiner Stelle nicht sicher ist, nimmt es hin, schlecht behandelt zu werden. In München klagen immer mehr Lehrlinge über Mobbing in Betrieben.

(Foto: Foto: ddp)

Schließlich ist Kfz-Mechatroniker der beliebteste Lehrberuf, den es gibt. "Eigentlich haben da nur noch Realschüler Chancen", sagt Robert, der wie die anderen Lehrlinge in dieser Geschichte einen anderen Namen hat.

Wie ein Alptraum

Das mit dem großen Los sieht er inzwischen allerdings anders: "Dass ich es dort nicht aushalten würde, war mir eigentlich schon nach den ersten Monaten klar", erzählt der 19-Jährige, "aber ich wollte die Stelle nicht aufgeben." Knapp zwei Jahre hielt er durch, doch im Mai 2006 war Schluss. Bei einem Streit mit einem älteren Mitarbeiter bekam er einen Schlag auf den Ellenbogen - "danach bin ich nie wieder hingegangen". Das war das Ende einer Lehrzeit, die sich in der Erzählung wie ein Alptraum anhört.

Von den Mitarbeitern beschimpft zu werden, gehörte in dem Autohaus zum Alltag, "Beleidigungen waren das erste, was ich in der Früh gehört habe", sagt der 19-Jährige. Einmal, nachdem er beim Tragen eines schweren Blumentopfs an einer Türschiene hängen geblieben sei, habe ihn der Chef gegen die Wand geschubst und geschrien: "Verpiss dich, du brauchst nie wieder zu kommen." Robert ging trotzdem am nächsten Tag zur Arbeit, "ich wollte den Ausbildungsplatz einfach nicht verlieren".

Wegen dieser Angst erledigte er auch die Aufträge, die mit seiner Lehre eigentlich nichts zu tun hatten: Zwei Wochen lang sah er kein Auto, weil er einen alten Geräteraum ausräumen musste, ausgebildet wurde der Kfz-Mechatroniker dafür in den Disziplinen Unkraut jäten im Hof, Holz hacken für den Kamin des Chefs, Schneeräumen oder Regale aufbauen.

Ausgenutzt und abgeschoben

Fein säuberlich hat der Lehrling seine Tätigkeiten als Hilfsarbeiter in seinem Berichtsheft notiert - am Ende kam er auf weit mehr als hundert Stunden. Was in dem Berichtsheft dagegen nicht auftaucht, sind Aufgaben wie zum Beispiel Kupplung wechseln. "Das hätte ich können müssen", sagt Robert. "In der Zwischenprüfung kam das dran." Und das sei nicht die einzige Lücke gewesen. "Wenn sich meine Mitschüler in der Berufsschule über ihre Arbeit unterhalten haben, wusste ich oft gar nicht, von was die überhaupt reden."

Durch die Werkstatt gezerrt

Ein extremer Einzelfall? Nein, sagt Jula Müller. Dass Lehrlinge, statt zu lernen, als billige Arbeitskraft eingesetzt würden, sei nicht so ungewöhnlich, erklärt die Beraterin im Ausbildungsbüro Azuro, das vom DGB und der Stadt betrieben wird.

Selbst körperliche Übergriffe auf die oft minderjährigen Azubis gebe es häufiger als man denke. Jugendliche würden gepackt und durch die Werkstatt gezerrt, eine Zahnarzthelferin, erzählt Müller, habe von ihrem Chef jedesmal einen Schlag mit der Lampe auf den Kopf bekommen, wenn sie einen Fehler gemacht hatte.

Jedes Jahr kommen allein in das Azuro-Büro an der Landwehrstraße 600 Lehrlinge, weil sie Probleme mit ihren Münchner Betrieben haben, sagt die Sozialpädagogin. Die Tendenz sei steigend - doch in der Öffentlichkeit werde das Thema kaum diskutiert.

Rechtsfreie Räume

Angesichts der Lehrstellenkrise sei die Kritik an Betrieben, die ausbilden, nicht opportun. Und weil die Jugendlichen aus Angst um den Verlust der Lehrstelle ebenfalls oft schwiegen, entstünden in vielen Betrieben ,,rechtsfreie Räume'', sagt Müller.

Zum Beispiel dort, wo Matthias seine Lehre absolviert. Eigentlich gibt es ein Jugendarbeitsschutzgesetz, doch davon ist in der Bäckerei nicht viel zu spüren. Normalerweise tritt der 17-Jährige seinen Dienst in der Backstube um fünf Uhr morgens an, doch seit drei Monaten beginnt Matthias seine Schicht um ein Uhr morgens und arbeitet dann die Nacht durch.

Das ist laut Gesetz ausdrücklich verboten. Zwei Wochen lang habe er zwölf Stunden pro Tag gearbeitet, erzählte der Bäckerlehrling, als er im Azuro-Büro Hilfe suchte. Als Ausgleich für die Überstunden steckte ihm der Meister einen 20-Euro-Schein zu.

Ausgenutzt und abgeschoben

Um herauszufinden, wie viele schwarze Schafe es unter den Münchner Lehrbetrieben wirklich gibt, hat der DGB in München erstmals eine Studie zur Qualität der Ausbildung erstellt. Das Ergebnis der Befragung von knapp 900 Lehrlingen sei besorgniserregend: 35 Prozent der Azubis verbringen durchschnittlich 13 Stunden pro Woche mit ausbildungsfremden Tätigkeiten, Arbeitsschutzgesetze werden nicht eingehalten und ein vorgeschriebener Ausbildungsplan fehlt bei fast der Hälfte der Befragten.

Besonders betroffen seien Lehrlinge im Handwerk und in den freien Berufen, denn je kleiner die Betriebe, desto schlechter die Lehre, lautet das Fazit.

Der Druck nimmt zu

Der Widerspruch folgte prompt. Eine "bodenlose Unverschämtheit" seien die Vorwürfe, schimpfte Handwerkskammer-Präsident Heinrich Traublinger, die angeführten Beispiele seien "krasse Einzelfälle". Gerade in Zeiten, in denen alles daran gesetzt werden müsse, alle Jugendliche mit Ausbildungsplätzen zu versorgen, gefährdeten solche schlimmen Vorwürfe die Bereitschaft der Betriebe, zusätzliche Lehrstellen zu schaffen.

Dass die Kammer mit heftiger Gegenwehr reagiere, ohne die Inhalte zu prüfen, sei äußerst schade, klagt Julia Müller. "Es geht ja nicht darum, den üblichen ermüdenden Streit zwischen Gewerkschaft und Arbeitgebern zu führen, sondern darum, den Jugendlichen, die zu uns kommen, zu helfen." Darüber müsse man gemeinsam reden, denn die Lehrlinge seien oft noch Kinder. Und der Druck nehme zu, je enger der Ausbildungsmarkt werde, beobachtet Müller.

"Wenn dir dass nicht passt, kannst du gehen. Ich finde jederzeit jemand anderen." Diese Sätze hat auch Arzthelferin Karola zu hören bekommen, als sie auf ihre vorgeschriebene halbstündige Pause bestehen wollte. In der orthopädischen Praxis in der Isarvorstadt gelten eigene Regeln. Und dazu gehören unbezahlte Überstunden, wenig Pausen und eine eigenwillige Personalsituation, sagt die 21-Jährige.

"Es gibt keine fertige Arzthelferin, sondern nur vier Lehrlinge in der Praxis." Doch aufhören kommt nicht in Frage. "Bei meiner ersten Lehrstelle wurde ich in der Probezeit gekündigt und habe drei Monate nach einer neuen Stelle gesucht. Deswegen habe ich keine Wahl, ich muss das durchziehen." In drei Monaten hat Karola Prüfung, dann will sie wieder zur Schule gehen.

Ausbildung wird zur Nebensache

Bis zum Schluss ihrer Lehre wird Suzan dagegen nicht durchhalten. Im Februar hat sie als Azubi in einer Bäckerei in der Innenstadt begonnen - "aber ich suche dringend etwas Neues". Denn von Ausbildung kann im Fall der 17-Jährigen bisher eigentlich keine Rede sein.

Nicht nur, dass sie sieben Monate auf ihren Vertrag warten musste, zusammen mit ihrer Schwester, die ebenfalls in der Ausbildung ist, steht Suzan Tag für Tag allein in einer Filiale. "Ab und zu kommt der Chef mal vorbei und schaut uns zu, doch es gibt niemand, der uns etwas beibringt."

Für 385 Euro Bruttolohn sind Suzan und ihre Schwester einfach billige Arbeitskräfte. Sogar die Handwerkskammer habe ihr inzwischen geraten, sich eine andere Lehrstelle zu suchen. Was nicht so einfach ist. "Eine Kollegin hatte gekündigt und kam dann doch wieder, weil sie nichts gefunden hat."

Robert dagegen hatte mehr Glück, inzwischen arbeitet er als Lehrling in einem Autohaus im Münchner Norden. Und diesmal ist es wirklich ein Treffer. "Ein Unterschied wie Tag und Nacht", sagt der 19-Jährige. Es tue gut, nicht gleich am Morgen als Arschloch bezeichnet zu werden.

Überstunden müsse er zwar auch beim neuen Chef hin und wieder machen, "doch die werden ausgeglichen, und wenn es abends länger dauert, bringt uns der Meister Essen und Getränke vom Griechen". Außerdem gebe es ein richtiges System, wann man welche Inhalte lerne, schwärmt er.

Seine alten Lehrlingskollegen, mit denen er noch sporadisch Kontakt hält, können davon nur träumen. Einer von ihnen sei inzwischen zum dritten Mal durch den Praxisteil der Gesellenprüfung gefallen, erzählt er. Jetzt wolle er Bürokaufmann lernen. Doch im großen Autohaus mit den bunten Fahnen gibt es Nachschub. Im September haben dort zwei neue Lehrlinge angefangen.

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