Menschen mit Behinderung:Wenn Arbeitgeber grundlos Angst haben

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Patrick Lauerwald fehlt das rechte Bein vom Knie abwärts, für seinen Bürojob spielt das keine Rolle. Und doch haben es viele junge Menschen mit Behinderung schwer, eine Stelle zu finden.

Von Kathrin Aldenhoff

Eine besondere Tastatur will sie nicht. Martina Sommer kommt zurecht, sie macht ihre Arbeit, füllt Excel-Listen, kontrolliert Tagesumsätze und rechnet. Ein Zahlenmensch sei sie, sagt ihre Abteilungsleiterin über die 22-jährige Auszubildende. Dass sie schwerbehindert ist, ihre Arme deutlich kürzer sind, als die anderer Menschen, dass sie nicht so beweglich und ihr Rücken verkrümmt ist - bei der Arbeit im Büro ist das nicht wichtig. Trotzdem bekam Martina Sommer nur Absagen, als sie sich nach der Mittleren Reife für eine Ausbildung zur Bürokauffrau bewarb. Obwohl sie gute Noten hatte. Dass sie nun einen Ausbildungsplatz in der Verwaltung der Metzgerei Vinzenzmurr hat, das verdankt sie auch Rudolf Schleicher.

Schleicher ist einer von zehn Reha-Beratern bei der Münchner Agentur für Arbeit. Seine Aufgabe ist es unter anderem, für Jugendliche und junge Erwachsene wie Martina Sommer einen Ausbildungsplatz zu finden. Durchschnittlich waren im vergangenen Jahr 2715 schwerbehinderte Menschen bei der Münchner Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet. Das entspricht einem Anteil von ungefähr 7,3 Prozent an der Gesamtzahl aller Arbeitslosen in der Stadt.

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Ziel des Reha-Teams ist es, diese Zahl zu senken. Rudolf Schleicher und seine Kollegen wollen, dass Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben teilhaben. Um das zu erreichen, steht dem Münchner Team jedes Jahr ein Budget von rund 30 Millionen Euro zur Verfügung. Davon hat auch Martina Sommer profitiert, die in Wirklichkeit anders heißt. Die junge Frau ist sehr schüchtern, sie möchte nicht, dass ihr Name oder ihr Foto in der Zeitung zu sehen ist. Ihren Ausbildungsplatz hat sie nur bekommen, weil die Agentur für Arbeit ihn zu 80 Prozent finanziert. Vinzenzmurr stellte die 22-Jährige als zusätzliche Auszubildende ein.

Rudolf Schleicher hat zwischen Martina Sommer und Vinzenzmurr vermittelt. Er hat der Personalabteilung erklärt, wie die Agentur für Arbeit den Ausbildungsplatz der jungen Frau fördern kann, unter anderem mit einem Ausbildungszuschuss, den die Agentur für Arbeit direkt an das Unternehmen zahlt. Seit 30 Jahren macht Schleicher seinen Job, seit 30 Jahren klärt er auf. "Viele denken, man muss Menschen mit einer Schwerbehinderung mehr erklären", sagt er. "Das stimmt oft so nicht. Eine Behinderung bedeutet nicht, dass die Arbeitsleistung gemindert ist. Aber diese Ängste sind da."

Unternehmen, die 20 Mitarbeiter und mehr beschäftigen, und der öffentliche Dienst sind vom Gesetzgeber dazu verpflichtet, auch Menschen mit Schwerbehinderung anzustellen. Wenn so ein Unternehmen weniger als fünf Prozent Schwerbehinderte beschäftigt, muss es zahlen, zwischen 125 und 320 Euro jeden Monat für jede nicht entsprechend besetzte Stelle.

Im Jahr 2017 waren im öffentlichen Dienst in München 5,9 Prozent der Stellen von Schwerbehinderten besetzt, bei den privaten Unternehmen waren es durchschnittlich nur 4,2 Prozent. Bayernweit wurden im Jahr 2017 rund 113 Millionen Euro Ausgleichsabgabe gezahlt. In diesen Wochen ist es wieder soweit, die Firmen in München müssen der Agentur für Arbeit bis Ende März melden, wie viele schwerbehinderte Beschäftigte sie haben.

Vinzenzmurr wird zwei Zahlen melden: 3,3 Prozent für den Bereich Verkauf und 5,4 Prozent für die Firma, in der Produktion und Verwaltung liegen. Patrick Lauerwald ist einer von den 5,4 Prozent. Seit zehn Jahren arbeitet er in der Verwaltung der Metzgerei, er hat seine Ausbildung dort gemacht und ist geblieben. Auch er ist schwerbehindert, hat einen "Grad der Behinderung" (GdB) von 80 auf einer Tabelle, die bis 100 reicht. "Das liest sich in den Bewerbungen schlimmer, als es ist", sagt der 31-Jährige. Ihm fehlt das rechte Bein vom Knie abwärts und Fingerglieder an den Händen. "Bei meiner Arbeit im Büro stört meine Behinderung nicht. Sie spielt dort keine Rolle."

Ulrike Mascher ist Landesvorsitzende des Sozialverbands VDK Bayern. Sie ist der Meinung, dass viel mehr Jugendliche mit Behinderung eine Ausbildung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt schaffen könnten, als es bisher der Fall ist. Wer sich aber von einer Förderschule auf eine Ausbildung bewerbe, habe es häufig schwer. Und: "Die Arbeitgeber kennen häufig die Fördermöglichkeiten nicht", sagt sie. Die Handelskammern müssten in diesem Punkt besser informieren, fordert sie. Angesichts des Fachkräftemangels könnte und sollte noch sehr viel mehr geschehen.

Rudolf Schleicher merkt, dass sich allmählich etwas ändert. "Bei der guten Arbeitsmarktlage suchen die Arbeitgeber händeringend nach Leuten. Die Unternehmen müssen sich öffnen." Doch dieser Prozess sei noch lange nicht abgeschlossen. Viele Unternehmen fürchteten teure Umbaumaßnahmen für Auszubildende mit Behinderung. Grundlos: "Wir zahlen den Umbau des Arbeitsplatzes, sodass der Jugendliche ganz normal arbeiten kann", sagt Schleicher - wenn etwa Rampen für Rollstuhlfahrer gebaut, Toilettentüren breiter gemacht oder spezielle Tastaturen für die Arbeit am Computer gekauft werden müssen. Und wer aufgrund seiner Beeinträchtigung nicht mit dem Auto oder der U-Bahn zum Arbeitsplatz fahren kann, dem zahlt die Agentur für Arbeit einen Fahrdienst.

Martina Sommer fährt mit dem Bus und mit der S-Bahn zur Arbeit und zur Berufsschule. Den Ausbildungsplatz in ihrem Wunschberuf Bürokauffrau hat sie bekommen, weil sich andere für sie eingesetzt haben. Wenn sie nach der Ausbildung übernommen wird, dann deshalb, weil sie ihren Job gut gemacht hat.

© SZ vom 21.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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